Journalist, Line Producer & Filmmaker based in Japan
Hier wirbt das Grabhochhaus Akasaka Jouen um Kunden – rechts daneben eine ähnliche Einrichtung © Sonja Blaschke

Japans Totenrituale:
Ruhe in Frieden, ruhe im Hochregal

In Japan sterben seit Jahren mehr Menschen, als geboren werden. Das hat Einfluss auf Totenrituale: Es fehlt an Platz, an Zeit und bei manchen Familien an Geld.

Die letzte Ruhe im Hochregal (PDF) (pdf)

In einem fast fensterlosen Gebäude im Tokioter Ausgehviertel Akasaka steht Takako Maeda vor einer Tür. Sie hält eine Karte an ein Lesegerät, mehrere Namen erscheinen auf einem Display. Nach 30, 40 Sekunden gleiten die Türflügel zur Seite. Sie geben den Blick frei auf eine Art Altar, davor ein Brünnlein und zwei runde Gefässe mit Räucherwerk, auf beiden Seiten bunte Schnittblumen. In der Mitte: hinter einer runden Steinplatte mit Familienwappen eine längliche metallene Box mit sterblichen Überresten. Schon vor einigen Jahren kaufte die 76-jährige Maeda, die eigentlich anders heisst, für sich und ihren Mann Toshiaki einen Platz in diesem „O-haka Mansion“, wörtlich „Grab-Apartmenthaus“. Trotz einem Beinleiden kommt die Seniorin täglich vorbei, um mit ihrer Tochter Yukiko Zwiesprache zu halten. Diese starb im Januar 2017 nach langer Krankheit mit erst 47 Jahren.

Yukiko Maeda war eine von rund 1,34 Millionen Menschen, die in Japan 2017 verschieden, das sind so viele wie nie seit Kriegsende. Seit 1983 ist in Japan die rohe Sterbeziffer, also die Zahl der Todesfälle pro 1000 Einwohner, stetig angestiegen, von damals 6 auf über 10 pro 1000 Personen. Seit 2005 übertrifft in der ältesten Nation der Welt die Zahl der Todesfälle stets die der Geburten, und die Prognosen für die Zukunft sind ähnlich.

Gedenkvideos und Selbsthilfegruppen

Bis zum Zweiten Weltkrieg wurden Verstorbene in Japan meist begraben. Danach verbreitete sich einhergehend mit der Urbanisierung die Feuerbestattung – nicht nur aus hygienischen Gründen. In den zugebauten, überbevölkerten Grossstädten ist der Platz für herkömmliche, an buddhistische Tempel angeschlossene Friedhöfe im Freien knapp. Japan sucht daher nach neuen Wegen, Verstorbene zwar nach alten Riten, aber platzsparend zu begraben – und nicht so teuer wie früher. Mehrere zehntausend Franken für Grab und Feier waren lange keine Seltenheit. Aber nach über 20 Jahren wirtschaftlicher Stagnation können und wollen sich das immer weniger Japaner leisten. Stattdessen bestellen sie Mönche per Internet oder lassen sich wie Maeda auf vertikale Friedhöfe ein, statt auf Zuspruch vom Priester bauen sie im Trauerfall auf weltliche Angebote von Bestattern.

Vor 20 Jahren habe es einen regelrechten Grabkaufboom gegeben, erinnert sich Kenryu Tsunoda. Der buddhistische Priester arbeitet im Tempel Dentoin. Dieser betreibt auch das Grab-Apartmenthaus „Akasaka Joen“, in dem Maedas Tochter in einer Urne im Hochregallager ihre ewige Ruhe gefunden hat. Es gebe schon Menschen, denen diese Form des Grabmals komisch vorkomme, räumt Tsunoda ein. Andere, wie Maeda, schätzen den Service. „Hier wechseln sie jede Woche die Blumen aus, ich muss mich um nichts kümmern.“ Wenn Tsunoda im langen Priestergewand bei der Todesfeier im Tempel im vierten Stock monoton-melodiös Sutras singt, dringt seine Stimme durch die hohe Eingangshalle bis zu den Sesseln in der Lobby. Dort sitzt Maeda immer, nachdem sie ihre Tochter besucht hat, und trinkt einen Kaffee, der für Besucher kostenlos ist.

In Japan, das sich durch ein unkompliziertes Miteinander der Religionen auszeichnet, ist der Buddhismus überwiegend für das Jenseits „zuständig“, die Urreligion Shinto für das Diesseits, zum Beispiel Hochzeiten. Im Denken des aus Naturreligionen hervorgegangenen Shintoismus gilt der Tod als etwas Unreines. Alles, was mit dem Sterben zu tun hat, ist daher mit Tabus behaftet.

Erst in den letzten Jahren, wohl auch, weil die älteste Nation der Welt sichtlich ergraut, ändert sich die Einstellung zum Tod. Nun ist „shukatsu“ sogar in Mode, also Aktivitäten („katsu“) zur Vorbereitung des eigenen Endes („shu“). Immer weniger Japaner wenden sich in ihrer Trauer aber der Religion zu. Viele wüssten nicht einmal mehr, welcher buddhistischen Strömung ihre Familie angehöre, sagt der 38 Jahre alte Tsunoda. Durch die Landflucht nach dem Zweiten Weltkrieg hätten viele auch keinen festen Familientempel mehr. Stattdessen übernehmen weltliche Anbieter wie Bestattungsunternehmen diese Funktion: Per Call-Center rund um die Uhr erreichbar, helfen sie den Hinterbliebenen ohne das strenge Korsett von buddhistischen Regeln, dafür mit extra Dienstleistungen vom Gedenkvideo bis zur Selbsthilfegruppe. Ein Bestatter in Nagano bietet sogar die Teilnahme an der Beerdigung per Drive-through über einen Monitor an – ein Angebot, das sich an Senioren, Körperbehinderte oder Menschen in Eile richtet.

„Meine Aufgabe ist es, den Menschen in ihren schlimmsten Momenten beizustehen“, sagt Hidenaka Atagi ernst. Er ist Bestattungsdirektor in einer Koekisha-Filiale in einem mehrstöckigen Granitgebäude im Südwesten Tokios. Eine Beerdigung zu organisieren, sei sehr herausfordernd, weil man nur drei bis vier Tage Zeit habe, sagt Atagi. Für den hochgewachsenen, zurückhaltenden Mann ist sein Beruf sichtlich Berufung: Mit 22 Jahren begann er eine dreijährige Ausbildung zum Bestatter, obwohl die Branche wegen des angeblichen Makels der Unreinheit kein hohes Ansehen geniesst. In der Mittelschule hatte er seine Mutter verloren, während des Studiums starb sein Vater. Er wolle den Trauernden besser beistehen, als er damals es selbst erlebt habe, erklärt der 46-Jährige. „Es ist eine wichtige Arbeit, die mich sehr motiviert und die einen grossen Wert hat.“ Viele Familien, die er einmal betreut hat, kommen bei späteren Trauerfällen wieder zu ihm, er hält über Jahre Kontakt.

Von der Bahre in die Urne

Meist beginnt Atagis Arbeit mit dem Transport des Leichnams vom Krankenhaus an den Ort, wo der Tote aufgebahrt wird. 90 Prozent der Japaner sterben im Spital. Stirbt jemand jedoch zu Hause, fragen die Nachbarn schon einmal, ob man den Arzt geholt habe. Das bringt die Hinterbliebenen in Verlegenheit, zumal auch die Polizei vorbeikommt. Der japanische Staat versucht derzeit, den Japanern das Sterben daheim nahezubringen. Es würde das Sozialsystem entlasten.

Die meisten Japaner bevorzugten für die Aufbahrung ein Zimmer beim Bestatter oder im Tempel. In Japan will man die Welt der Lebenden und jene der Toten trennen. Daher geht es bei vielen Totenriten darum, die Orte der Lebenden rituell von den Spuren des Todes zu reinigen. Wird jemand dennoch daheim aufgebahrt, muss zum Beispiel der shintoistische Hausaltar „zum Schutz“ mit einem weissen Tuch oder Papier verhängt werden.

Der gewaschene Leichnam wird im weissen Totengewand so placiert, dass der Kopf gegen Norden zeigt. Laut dem Japanologen und Religionsexperten Bernhard Scheid geht diese Regel auf den historischen Buddha zurück. Dieser soll mit dem Kopf nach Norden und Blick nach Westen ins Nirwana eingegangen sein. Im Alltag vermeiden Japaner diese Lage, weil sie laut einem Aberglauben zu Unglück und einem kurzen Leben führen soll. Neben den Kopf stellt man eine Schale mit gekochtem Reis und steckt Stäbchen senkrecht hinein – etwas, das man im Alltag auf keinen Fall machen darf.

An der Totenwache in der ersten Nacht im engsten Familienkreis sprach traditionell der älteste Sohn die Gebete, heute häufig der Bestatter. Am nächsten Tag findet eine Trauerfeier mit Verwandten und Bekannten statt. Dazu werden Räucherstäbchen abgebrannt. Als Kondolenzgabe überreicht man Geld in einem speziell gefalteten und beschrifteten Umschlag, aber auf keinen Fall neue Geldscheine. Sonst könnte man das dahin deuten, dass der Tod der Person erwartet worden wäre. Der Betrag ist als Beitrag zu den Kosten für die Beerdigung gedacht. Nach Ende der Trauerzeit ist es üblich, dass die Hinterbliebenen ein Gegengeschenk im Wert bis zur Hälfte des Betrages machen.

Der Leichnam wird dann von den Trauergästen in den Sarg gelegt, zum Krematorium transportiert und mit dem Sarg verbrannt. Dabei darf die Temperatur nicht zu hoch sein, damit nicht nur Asche übrig bleibt, sondern auch grössere Knochen. Bei einer speziellen Zeremonie holen Angehörige zu zweit jeden Knochen mit langen Stäbchen aus der Asche und legen diesen gemeinsam in die Urne. Wegen der Assoziation mit diesem Ritus ist es in Japan verpönt, Essen von Stäbchen zu Stäbchen weiterzureichen. Die Urne wird bis zu 49 Tage zu Hause mit einem Bild der verstorbenen Person aufgestellt, bevor sie relativ formlos im Familiengrab beigesetzt wird. In regelmässigen Abständen folgen Gedenkfeiern: Heute begnügen sich die meisten Familien mit Feiern bis zu drei Jahre nach dem Tod.

Trauerfeier zu Lebzeiten

Früher undenkbar, werden selbst organisierte Totenfeiern zu Lebzeiten in Japan beliebt. So lud kürzlich der frühere Firmenchef des Industriekonzerns Komatsu 1000 Gäste in ein Tokioter Hotel ein. Im Rollstuhl sitzend, wurde Satoru Anzaki von Tisch zu Tisch geschoben, dankte und verabschiedete sich bei allen persönlich. Er habe das tun wollen, solange er noch in guter Verfassung sei, sagte der 80-Jährige. Er leidet an Krebs im Endstadium.

In Bahnen und Bussen, Zeitungen und Zeitschriften, selbst auf Facebook finden sich Anzeigen, die zum Grabkauf vor dem eigenen Ableben animieren wollen. Inzwischen sorgt über die Hälfte der Japaner vor, auch um die Kinder nicht finanziell zu belasten. Ein Grabplatz in der Stadt koste zwischen zwei und drei Millionen Yen, sagt der Bestatter Atagi. Noch teurer – und ein Statussymbol – ist ein Platz auf Prominentenfriedhöfen wie Aoyama im Zentrum von Tokio. Dort muss man mit vier Millionen aufwärts rechnen, umgerechnet 35 000 Franken. Trotzdem gibt es 40-mal mehr Interessenten als freie Plätze. Das Los entscheidet.

Trotz High Tech ist ein Grab im Hochregallager des „Akasaka Joen“ deutlich günstiger. Zu den Anfangskosten von umgerechnet 13 000 Franken kommen jährliche Unterhaltskosten von 160 Franken. Es gibt keine Wartezeiten, derzeit sind nicht einmal die Hälfte von 3700 Grabplätzen besetzt.

Selbst der Marktführer Koekisha spürt in der von Familienbetrieben geprägten Branche den Kostendruck. Durch die steigende Zahl der Toten gab es in den letzten Jahren mehr Wettbewerb. „Die Menschen geben weniger als früher für die Beerdigung aus“, sagt Atagi, zwischen eineinhalb und zwei Millionen Yen. Trotzdem entscheiden sich immer mehr Japaner für die Einbalsamierung, ein Verfahren, das es im Land erst seit 20 Jahren gibt. Bei Koekisha, wo man schon früh diese Leistung anbot, wünschten die Kunden das bei 60 Prozent der jährlich 10 000 Beerdigungen, sagt Atagi. Gerade bei Selbstmord sei das wichtig für die Angehörigen. Der Aufpreis für die Schönheit zum Schluss: etwa 1300 Schweizerfranken.

Das Grab in der Nähe

Allen Tabus rund um den Tod zum Trotz ist der Kontakt zu den Verstorbenen für Japaner sehr wichtig – über kurze Andachten am Hausaltar oder über die Grabpflege. Der Ahnenkult wird im Juli und August beim buddhistischen Bon-Fest besonders zelebriert. Dann, so der Glaube, kommen die Verstorbenen die Lebenden besuchen. Zur Orientierung für die Geister hängt man „Begrüssungslichter“ am frisch gesäuberten Familiengrab auf. Da viele Gräber auf dem Land sind, ist zur Bon-Zeit auf Japans Verkehrswegen die Hölle los.

Für ältere Leute wird die Pflege solcher Gräber oft zur Last. Deswegen siedeln immer mehr Japaner Gräber, die oft jahrhundertelang an einem Ort waren, in die Nähe ihrer Wohnorte in den Städten um. Auch Takako Maeda liess das Grab ihrer Schwiegereltern, die aus der Stadt Mito 100 Kilometer nördlich von Tokio stammten, in ihr High-Tech-Grab verlegen. Je nach Grösse passen bis zu acht Urnen und mehrere Stoffsäckchen in eine Box. Der Umzug hatte nicht nur praktische Gründe: „Ich wollte auf keinen Fall ins Familiengrab meiner Schwiegermutter“, sagt Maeda. Wenn sie stürbe, würde sie zwar trotzdem im gleichen Grab landen wie diese, „aber hier ist mein Territorium!“, sagt Maeda und lacht schelmisch.

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