Rikuzentakata, die ausgelöschte Stadt
Eine weiße Atemschutzmaske bedeckt Mund und Nase, auf dem Kopf ein weißer Helm, ein Handtuch um den Hals. Sie trägt einen weißen Overall, blaue Gummihandschuhe und -stiefel. Dazu eine die Augenpartie abschließende überdimensionale Brille, die sonst in Japan vom Heuschnupfen Geplagte aufsetzen. Und das bei 35 Grad Hitze schon vor neun Uhr morgens. Kaori Sano hat einige Tage freigenommen und packt mit Schaufel und Schubkarre bei den Aufräumarbeiten in Rikuzentakata in der Präfektur Iwate mit an. Derart gekleidet ist sie sicher vor Asbest-Staub, Stechmücken und Sonnenbrand.
Nicht jedoch vor Überraschungen, denn noch immer gelten rund 600 Menschen der 24.000-Einwohner-Stadt Rikuzentakata als vermisst; über 1.500 sind nach Polizeiangaben gestorben. Der Tsunami im März diese Jahres, der sich in Rikuzentakata acht Kilometer einen Fluss entlang ins Landesinnere fraß, habe einen ähnlichen Effekt wie die Atombombe in Hiroshima gehabt, sagen viele.
Die verbliebenen Stahlgerippe neigen sich alle in eine Richtung. Der Tsunami spülte Gebäude aus Stahl und Beton bis zum vierten Stock durch, riss Holzhäuser weg, wurde immer zerstörerischer durch die mitgeschleiften Trümmer. Die Hälfte der 8.000 Haushalte Rikuzentakatas ist betroffen. Wo einmal der Stadtkern war, ist nun erschütternde Leere, unterbrochen nur von einigen Schuttbergen und Autofriedhöfen.
Menschen sind in dieser trostlosen Ebene nur wenige unterwegs, manche fotografieren, andere stochern in den Trümmern. Soldaten und Polizei regeln den spärlichen Autoverkehr auf den Straßen. Um von Ofunato über Rikuzentakata nach Kesennuma zu fahren, ist ein kilometerlanger Umweg über enge Holperstraßen nötig. Die Brücken sind alle weggespült.
Bürgermeister Futoshi Toba hatte die Katastrophe überlebt, weil er auf das Dach des Rathauses von Rikuzentakata geflohen war. Er habe mit sich gerungen, hätte am liebsten seinen Posten verlassen, um seine Frau Kumi zu warnen, erzählt er. Denn er kannte die Drillroutine in Notfällen: Erst sammeln, dann durchzählen, dann gemeinsam fliehen, was angesichts der Heftigkeit des Tsunamis gefährlich lang gedauert hätte. „Sie wird es nicht rechtzeitig geschafft haben“, fürchtete er seinerzeit. Im April dann die schreckliche Gewissheit – ihre Leiche wurde gefunden. Mit seinen Kindern im Alter von zehn und zwölf Jahren lebt er nun im „zum Glück sehr geselligen Haus“ eines Onkels, zu zehnt.
Erst einen Monat vor der Katastrophe hatte der Parteilose, der früher Liberaldemokrat war, sein Amt angetreten. „Obwohl er so jung ist, führt er die Menschen ganz hervorragend. Er ist zum Hoffnungsträger aller geworden“, schwärmt Chikara Yoshida, ein 77-jähriger kommunistischer Biobauer, der seinen Sohn und seine Reisfelder verlor. Geblieben sind ihm seine Obsthaine und Gewächshäuser.
Mit Geschick und Weitblick kämpft Toba seither um den Erhalt der Stadt. Schon seit Jahrzehnten wanderten die jungen Leute in der Unglücksregion Tohoku in die Großstädte ab. Die Menschen in Rikuzentakata arbeiteten in einer Sakefabrik – ein Amateurvideo zeigt, wie der Tsunami diese spektakulär zermalmte oder züchteten vor der Küste Austern, Muscheln und Wakame, die essbaren Braunalgen. Der Bürgermeister wollte den Tourismus ausbauen. Besonders stolz war die Stadt auf ihren von einem Kiefernwald gesäumten langen Strand. Der einzige Baum, der dort nun noch steht, ist zum Symbol des Wiederaufbaus geworden. Er ziert Aufkleber mit Durchhaltesprüchen, Poster und die Visitenkarten der Stadtangestellten, auf denen sie sich auch für die Hilfe aus dem ganzen Land bedanken.
Der Gouverneur der Präfektur Iwate, Takuya Tasso (47), schätzt, dass die Aufräum- und Aufbauarbeiten in den zwölf betroffenen Orten zwischen drei und sechs Jahren dauern. „Um Rikuzentakata einigermaßen wiederherzustellen, brauchen wir acht Jahre, für unsere Wunschstadt 20 bis 30 Jahre“, befürchtet Toba. „Sie haben sie ja gesehen – da ist nichts mehr zu reparieren!“
Dafür müssen zuerst die zehn bis zwanzig Meter hohen, Fliegen umschwirrten Schuttberge weg, über die in der leeren Ebene jetzt die Sandstürme fegen. Im Nachbarort Ofunato lägen bereits 800.000 Tonnen, in Rikuzentakata 900.000. Aber die Zementfabrik Taiheiyo in Ofunato könne täglich nur 300 Tonnen verarbeiten. Immer mehr Müllverbrennungsanlagen wollten das vom Salzwasser getränkte Holz nicht annehmen, weil es den Öfen schade, erzählt Toba. Er wünscht sich mobile Verbrennungsanlagen.
Auf Verwaltungsebene geht man zwar langsam zum Wiederaufbau über. Doch die meisten Evakuierten schütteln auch jetzt noch den Kopf, wenn man sie nach ihren Zukunftsplänen fragt: „So weit können wir noch gar nicht denken.“ Mitte Juni hat Mai Sunagawa mit ihrem Mann, ihrem kleinen Sohn und ihren Eltern eines von bisher 1.200 Übergangsreihenhäuschen von etwa 40 Quadratmetern bezogen, ausgestattet mit Elektrogeräten gespendet vom Roten Kreuz. 2.200 solcher Containerhäuser sind geplant, um rund 10.000 Evakuierten in Rikuzentakata ein eigenes Dach über dem Kopf zu geben. Dort können sie zwei Jahre kostenlos wohnen. Der Mann der 36-Jährigen fährt zur See, ihre Eltern sind die einzigen Steuerberater am Ort. Sie fühlen sich in der Pflicht und im Gegensatz zu Mai wollen sie auch nicht fort.
„Als der Tsunami kam, hat meine Mutter ihren Computer mit allen Daten gepackt, ist in die Pantoffeln geschlüpft und weggerannt“, erzählt Mai kopfschüttelnd und lacht, und ihre Mutter Sachiko (63) lacht mit. Viele können auch Monate später noch nicht glauben, was ihnen selbst passiert ist. „Wir tauschen uns oft mit den anderen Betroffenen aus, fragen nach Familienangehörigen, der aktuellen Lage“, sagt Mai. „Wir hatten ja noch Glück, weil wir nur unser Haus verloren haben.“ Sie könnte erleichtert sein, doch: „Wir haben Angst vor einem weiteren Tsunami.“ Denn nun kann die Wassermassen nichts mehr aufhalten. Dabei leben sie nun etwa 50 Meter über dem Meeresspiegel, zwei Kilometer vom Pazifik entfernt.
Diese Ängste sowie der Wunsch nach Erhaltung von Gemeinschaften spielt bei der Planung des Wiederaufbaus in Nordostjapan eine große Rolle. Die Städte sollen nun in zweckgebundene Zonen eingeteilt werden. Das bedeutet, dass Wohnen, Arbeiten und Lernen getrennt würden. Vor allem die Fischer, die ein Leben direkt an ihrem Arbeitsplatz, dem Meer, gewohnt sind, würde die Umstellung hart treffen, zumal ein großer Teil von ihnen über 60 Jahre alt ist.
Der Begriff eco town fällt oft, wenn es um Zukunftskonzepte für die Region Tohoku geht: Direkt an den Küsten und in den Ebenen könnte man Windräder und Solarparks bauen, die Wohngebiete dagegen auf höheren Lagen. Bürgermeister Toba denkt über Arten der Energiegewinnung nach, zum Beispiel in Form einer Biomasse-Anlage: „Aber keine große, das wäre hässlich. Da will dann keiner mehr die Austern von unserer Küste kaufen!“ Doch eines dämpft selbst Tobas Optimismus. Entscheidender Faktor beim Wiederaufbau sind engagierte Freiwillige wie Kaori Sano. Und auch hier zeigt sich das Ausmaß des Desasters: „Wir brauchen pro Tag 2.000 Helfer – tatsächlich kommen etwa 300 Leute“, so Toba.