Atombombe von Nagasaki:
Die Lektion nicht gelernt
Die Menschen sollten nicht nur von Atomwaffen, sondern auch von der Atomenergie die Finger lassen, findet Tatsuya Kusunoki. Der agile, braungebrannte Senior sitzt in seinem offenen Gang an der Fensterfront und blickt auf den hübschen Garten im traditionellen japanischen Stil. „Als die Menschen vom Atom naschten, kosteten sie von der verbotenen Frucht“, sagt der 77-Jährige. „Adam und Eva wurden deshalb aus dem Paradies vertrieben.“ Der Menschheit drohe das Gleiche, wenn sie nicht endlich die Augen öffne. „Wir müssen die Atomwaffen abschaffen!“, fordert Kusunoki mit Nachdruck.
Auch wenn er die Bibel heranzieht – Kusunoki ist Buddhist. Er leitete rund 50 Jahre den Tempel Kogenji in Nagasaki, idyllisch gelegen in den Hügeln am Rand der Stadt. Ausserdem steht er einer konfessionsübergreifenden Gruppe vor, die sich seit Jahrzehnten für die Abschaffung von Atomwaffen und in der Friedensbewegung engagiert. Erst im Juni reisten 70 Mitglieder in den Vatikan. Dort baten sie Papst Franziskus, eine Ausstellung über die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki organisieren zu dürfen. Falls sie zustande kommt, soll diese den aus aller Welt in den Vatikan strömenden Besuchern zeigen, welches Leid Atomwaffen verursachen.
Keine Chance gegen „Fat Man“
Kusunoki ist aus gutem Grund gegen Atomwaffen. Vor 70 Jahren wurde er als Siebenjähriger radioaktiv verstrahlt. Damals warf der amerikanische B-29-Bomber „Bockscar“ die Atombombe „Fat Man“ über Nagasaki ab. Wer am 9. August 1945 weniger als einen Kilometer vom Hypozentrum im Norden der Stadt entfernt war, hatte so gut wie keine Chance. Etwa 70 000 Menschen starben bis Ende 1945. Doppelt so viele, schätzt man, kamen durch die Atombombe in Hiroshima ums Leben, die drei Tage vorher abgeworfen worden war.
Kusunoki und seine Familie hatten Glück. Einer der vielen Hügel Nagasakis schirmte den Tempel ab, der 3,5 Kilometer von der Abwurfstelle entfernt ist. Kusunoki flüchtete unverletzt in den Luftschutzkeller. Da sein Vater und zwei Schwestern an jenem Tag krank zu Hause waren, überlebten sie leicht verletzt. An ihrem Arbeitsplatz in den Waffenfabriken von Mitsubishi wären sie wohl gestorben. Bald kümmerten sie sich um die unzähligen Verletzten, die zum Tempel gebracht wurden.
Man habe kaum noch einen Fuss auf den Boden setzen können, so viele Leute hätten dort gelegen. „Das tiefe Stöhnen, das ich von dort hörte, machte mir Angst“, erinnert sich Kusunoki. Er wollte sich am liebsten nicht nähern. Ein fürchterlicher Geruch von Rauch und Leichen sei über die Stadt gezogen.
Entschuldigung überfällig
Obwohl Japan Opfer der Atombomben war, müsse sich das Land entschuldigen. Und zwar bei den ostasiatischen Nachbarn, sagt Kusunoki. Am 15. August jährt sich die Kapitulation Japans zum 70. Mal. Japan hatte Korea 1910 besetzt und China 1932 angegriffen. Dieses Erbe belastet die Beziehungen in Ostasien noch heute. „Bei den Tätern verblasst die Tat, und sie vergessen diese, aber die Opfer erinnern sich daran, egal, wie viel Zeit vergeht“, sagt der Buddhist. Deswegen habe er Verständnis für die Forderung Koreas und Chinas nach einer ernstgemeinten Entschuldigung.
Umgekehrt ruft Kusunoki Japans Nachbarn dazu auf, öffentlich anzuerkennen, dass ein Teil ihres Wirtschaftswachstums durch japanische Unterstützung ermöglicht wurde. Er könne auch verstehen, dass die japanische Regierung aus Angst vor Geldforderungen vor einer stärkeren Entschuldigung zurückschrecke. „Sie schaden sich alle gegenseitig“, sagt Kusunoki. Dabei wüssten alle, dass sie von besseren Beziehungen profitieren würden.
Für Kusunoki als Buddhist hat das Leben höchsten Wert. Aber heutzutage drehe sich alles nur noch um die Wirtschaft: „Egal, ob etwas schädlich oder giftig ist, wenn es Geld bringt, ist es gut!“ Wie viele Überlebende der Atombombe unterscheidet er nicht zwischen dieser und der Atomenergie. Er möchte beide abgeschafft sehen. Diese Überzeugung hat der schwere Unfall im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi im März 2011 noch verstärkt. „Wir haben bisher nur gegen die Atombombe gekämpft. Aber ist das Problem der Atomkraft nicht eigentlich noch grösser?“, fragt Kusunoki.
Angesichts der weitreichenden Folgen dieser Katastrophe könne er nicht verstehen, warum die japanische Regierung weiter auf die Atomkraft setze. „Wir haben von der verbotenen Frucht gekostet. Aber der Staat will dennoch schon bald einige Reaktoren wieder ans Netz bringen“, sagt Kusunoki und seufzt. „Sie haben die Lektion nicht gelernt.“