日本在住ジャーナリスト、撮影コーディネーター、ドキュメンタリー映画監督
"Taiwan is my country" - solche T-Shirts sind bei jungen Taiwanern beliebt. Foto: Sonja Blaschke
"Taiwan is my country" - solche T-Shirts sind bei jungen Taiwanern beliebt © Sonja Blaschke

Den grossen Bruder auf Abstand halten

Ältere Taiwaner sehen sich als Chinesen, jüngere aber als Taiwaner. Das dürfte die politischen Verhältnisse auf ihrer Insel bald verändern.
Auf dem T-Shirt stehe „Du denkst an China, ich denke an Taiwan“, erklärt Wang Gina Pin-zhen, eine 18-jährige Schülerin in Taipeh. Foto: Sonja Blaschke
Auf dem T-Shirt stehe „Du denkst an China, ich denke an Taiwan“, erklärt Wang Gina Pin-zhen, eine 18-jährige Schülerin in Taipeh © Sonja Blaschke

Sein halblanges Haar trägt Chu Chen im Nacken zusammengebunden. Widerspenstige Strähnen am Oberkopf hält ein metallenes Haarband fest. Der junge Taiwaner, der sich den englischen Namen James gegeben hat, zeigt rote Schriftzeichen auf der Rückseite seines schwarzen T-Shirts. Das bedeute „Du denkst an China, ich denke an Taiwan“, erklärt Wang Gina Pin-zhen, die mit ihm in einer Runde von 18-jährigen Schülern sitzt. Die jungen Leute gehören zu einigen hundert Schülern, die im Sommer aus Protest gegen prochinesische Schulbücher das Bildungsministerium in Taiwans Hauptstadt Taipeh stürmten. Sie wehrten sich dagegen, dass in den neuen Büchern die Geschichte ihrer Heimat als Fortsetzung der Geschichte der kommunistischen Volksrepublik dargestellt wird. Dabei sei Taiwan doch eine Mischung von Kulturen, sagt Gina, die mit ihrer roten Brille unter den Ponyfransen viel jünger aussieht. Wie viele Taiwaner ist sie sehr stolz auf ihre junge Demokratie.

Die Vorderseite von James’ T-Shirt zeigt einen Schirm, das Symbol ihrer Bewegung. Dieser stehe dafür, dass Taiwan „von illegalen Vorgängen in der Regierung überschattet werde“, erklärt er. Damit ist die Kuomintang (KMT) gemeint, die langjährige Regierungspartei. Diese führte Taiwan bis Ende der achtziger Jahre mit aller Härte als Einparteistaat. Erst mit der Demokratiebewegung in den neunziger Jahren erkämpften sich die Taiwaner mehr Freiheit, neue Parteien entstanden. Die Demokratische Progressive Partei (DPP) stellte von 2000 bis 2008 sogar den Präsidenten. Danach verlor sie das Amt nach Korruptionsskandalen aber wieder an die KMT.

Die Vorderseite von James’ T-Shirt zeigt einen Schirm, das Symbol ihrer Bewegung. Dieser stehe dafür, dass Taiwan „von illegalen Vorgängen in der Regierung überschattet werde“, erklärt er. Foto: Sonja Blaschke
Der Schirm stehe laut James dafür, dass Taiwan „von illegalen Vorgängen in der Regierung überschattet werde“ © Sonja Blaschke

Alte Machtelite angezählt

Doch inzwischen scheinen die Tage der alten Machtelite gezählt. Eric Chu, der KMT-Kandidat bei der Präsidentenwahl am 16. Januar, fällt bei Prognosen weit hinter die Oppositionskandidatin Tsai Ing-wen von der DPP zurück. Zum erwarteten haushohen Verlust der KMT dürften gerade die jungen Taiwaner beitragen, die weniger für die Opposition als vielmehr gegen die Regierung stimmen wollen. Ihnen missfällt der Kuschelkurs mit China, den Präsident Ma Ying-jeou seit 2008 fährt. Ma hatte im November überraschend den chinesischen Präsidenten Xi Jinping in Singapur getroffen – die erste Zusammenkunft auf dieser Ebene seit der Trennung 1949.

Zuvor hatte die Absicht von Mas Regierung, ein Dienstleistungsabkommen mit China abzuschliessen, im Frühjahr 2013 zu Massenprotesten geführt. Damals stürmten Studenten das Parlament und besetzten es über drei Wochen lang. Hunderttausende Taiwaner versammelten sich darauf aus Solidarität mit den jungen Leuten, die man Sonnenblumen taufte, im Regierungsviertel. Viele Taiwaner fürchten den starken Einfluss Chinas, das auf
seiner Ein-China-Politik beharrt, und lehnen eine Vereinigung strikt ab. „Wenn wir ein Teil von China werden würden, dann wäre das so, als würden wir nur des Geldes wegen jemanden heiraten „, sagt die 28-jährige Christine Lee, die damals bei den Protesten vor Ort war. Was sie denkt, spiegelt die Meinung vieler junger Taiwaner wider, die auf die Autonomie ihres Landes pochen.

Dieses Regierungsgebäude stürmte die beiden jungen Männer mit anderen vor zwei Jahren. Es fühle sich komisch an, sich nun für ein Foto davorzustellen © Sonja Blaschke
Dieses Regierungsgebäude stürmte die beiden jungen Männer mit anderen vor zwei Jahren. Es fühle sich komisch an, sich nun für ein Foto davorzustellen © Sonja Blaschke

Die Proteste waren nur bedingt erfolgreich. Das Abkommen liegt auf Eis, wurde aber nicht zurückgenommen. „Wenigstens interessieren sich jetzt mehr junge Leute für Politik“, sagt Lai Ping-yu, eine 23-jährige Jusstudentin im Manga-Kostüm, deren niedliches Äusseres über ihren Kampfgeist als eine der Hauptbeteiligten hinwegtäuscht. Gingen früher 40 bis 50 Prozent der jungen Leute zur Wahl, seien es seit der Sonnenblumen-Bewegung an die 70 Prozent, sagt die Schülerin Gina, die erst in zwei Jahren wählen darf. Die Sonnenblumen hätten auch sie, James und die anderen Schüler inspiriert.

Keine Angst mehr

„Die junge Generation ist aufgewacht „, sagt der Buchhändler Wu Cheng-san, ein älterer Herr, der mit spürbarem Stolz einen Laden in Taipeh führt, wo es nur Bücher, DVD und Zeitschriften über Taiwan gibt. „Wir Älteren hatten früher unter der KMT Angst, ermordet zu werden, und haben uns nicht getraut, etwas zu sagen“, sagt er und spielt auf Zeiten an, als die KMT aus Angst vor kommunistischen Spionen Tausende Menschen einsperrte und umbrachte. Bis 1987 galt in Taiwan das Kriegsrecht. Seit der Sonnenblumen-Bewegung habe er viel mehr Kundschaft, sagt Wu. Er hebt T-Shirts mit Taiwan-Schriftzug hoch. Hiervon verkaufe er nun viele. „Als damals die jungen Leute einfach aufstanden und öffentlich sagten ‹Wir sind für Taiwan›, waren wir Alten geschockt. Aber für die Jugend ist das normal.“

"Taiwan is my country" - solche T-Shirts sind bei jungen Taiwanern beliebt. Foto: Sonja Blaschke
„Taiwan is my country“ – solche T-Shirts sind bei jungen Taiwanern beliebt © Sonja Blaschke

Man könne die Trennlinie zwischen den Generationen anhand der Reaktion auf das Treffen zwischen den Präsidenten Ma und Xi festmachen, erklärt der Politologe Wu Yu-shan von der Academia Sinica. Taiwaner über 40 beurteilten es eher positiv, jüngere Taiwaner negativ. Diesen Generationenunterschied, der eng mit der Frage der Identität verknüpft ist, gibt es auch in der Familie von James. „Mein Grossvater und mein Vater empfinden sich als Chinesen“, sagt er. Sein Vater sei ein wenig traurig über sein Engagement, habe ihn jedoch unterstützt, ihn zu den Protesten gefahren und ihm sogar nachts um zwei Uhr noch etwas gekocht. „Er kann immer noch nicht begreifen, warum wir nicht warten konnten“, sagt James, „wo sich die Dinge doch vielleicht automatisch ändern.“