Journalist, Line Producer & Filmmaker based in Japan
Hongkong- und Taiwan-Artikel mit frechem Augenzwinkern (Taipeh 2023) © Sonja Blaschke
Hongkong- und Taiwan-Artikel mit frechem Augenzwinkern (Taipeh 2023) © Sonja Blaschke

Metal-Musiker und Politiker Freddy Lim:
„Peking zensuriert dein Leben“

Nutzt China die US-Wahlen, um Taiwan anzugreifen? Der Musiker und Abgeordnete Freddy Lim hat sich an die Bedrohung gewöhnt. Er warnt den Westen vor chinesischer Unterwanderung.

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Interview: Sonja Blaschke, Gordana Mijuk

NZZ am Sonntag: Fürchten Sie sich vor den Wahlen in den USA?
Freddy Lim: Ich versuche ruhig zu bleiben. Mit Biden als Präsidenten würde sich für Taiwan wohl nicht viel ändern. Falls es nach der Wahl in den USA zu Turbulenzen kommt, könnte dies China als Chance nutzen, um in Taiwan einzufallen – das befürchten zumindest Beobachter.

Sie und viele andere Taiwaner lässt das offenbar kalt. Warum?
Wir sind wachsam, aber verfallen nicht in Panik – wir müssen unser Leben leben. Zudem bedroht uns China schon seit über drei Jahrzehnten. Es war oft schon viel schlimmer, zum Beispiel 1996, als in Taiwan die erste direkte Präsidentschaftswahl stattfand und China ballistische Raketen abschoss, die in unsere Gewässer stürzten. Oder als nach der Jahrtausendwende immer mehr Raketen auf uns gerichtet wurden, weil unser damaliger Präsident sehr chinakritisch war. China versuchte damals Taiwan international zu isolieren. In dieser Zeit war unsere Beziehung zu den USA auf einem Tiefpunkt. Die internationale Gemeinschaft stand zu China. Heute dagegen ist es nicht mehr so gefährlich, weil wir mit mehr Ländern eng kooperieren.

Aber China hat mit Xi Jinping einen Staatschef, der Taiwan sehr klar militärisch droht. Verändert das nicht die Lage komplett?
Xi Jinping ist zwar dabei, ein Imperium aufzubauen, aber er sieht sich auch mehr nationalen Problemen und Herausforderungen in der Kommunistischen Partei gegenüber. In Taiwan haben wir in den letzten zwanzig Jahren unsere Verteidigungskraft erhöht. Sollte China hier einfallen, würden laut einer aktuellen Umfrage 70 Prozent der Taiwaner für ihr Land kämpfen. In Europa ist die Bereitschaft, fürs eigene Land zu kämpfen, viel tiefer. Zudem reformieren wir die Ausbildung der Soldaten und die Mobilmachung der Reserve-Armee. Der Schwerpunkt der Verteidigung liegt auf der Luftwaffe und der Marine.

Sie sagten, Taiwan kooperiere mit mehr Ländern als früher. Aber offiziell hat Taiwan nur 14 diplomatische Verbündete. Vor vier Jahren waren es über 20. Wen zählen Sie zu Ihren Alliierten?
Offizielle Beziehungen wurden früher überbewertet. Es ist viel wichtiger, dass uns Länder wie Deutschland, Kanada oder Frankreich etwa beim Beitritt zur Weltgesundheitsorganisation unterstützen. Und die militärische und nachrichtendienstliche Kooperation mit Ländern wie Australien, Neuseeland und Grossbritannien ist viel enger als zuvor.

Die chinesische Rhetorik gegenüber Taiwan hat sich verschärft, seit Tsai Ing-wen von der Demokratischen Fortschrittspartei 2016 Präsidentin wurde und die chinafreundliche nationalistische Volkspartei ablöste. Wie hat dies das Leben in Taiwan verändert?
Vor Tsai hat die Regierung versucht, die Taiwaner davon zu überzeugen, dass wir internationale Beziehungen nur über China aufbauen können. Wir haben aber gezeigt, dass wir uns selbst in die internationale Gemeinschaft einbringen können. Wir haben progressive Werte etabliert und als erstes asiatisches Land die Homo-Ehe eingeführt. Wir haben viel erreicht – international, aber auch im Inland.

Welche Rolle spielt die Jugend in der taiwanischen Politik?
Sie ist enorm wichtig. 2014 waren es Studierende, die das taiwanische Parlament 24 Tage lang besetzten, um ein umstrittenes Dienstleistungsabkommen mit China zu kippen. Hunderttausende gingen damals auf die Strasse – und der unterzeichnete Vertrag trat nie in Kraft. Junge Menschen verhalfen auch Tsai zum Wahlsieg 2016. Danach hat die Jugend politisch wieder etwas nachgelassen. Die Quittung kam zwei Jahre später. Damals ging es der Wirtschaft schlecht, die Leute waren enttäuscht von Tsai, und ihre Partei fuhr eine grosse Wahlschlappe ein. Da zeigte sich, wie stark die konservativen und chinafreundlichen politischen Kräfte noch waren. Danach haben viele junge Leute wieder angefangen, politisch aktiv zu werden. Das war sehr inspirierend.

Von ihnen hängt die Zukunft ab.
Bei den letzten Wahlen kamen Beobachter aus Hongkong, Thailand, Korea und Japan zu uns. Sie wollten sehen, wie wir die Jugend mobilisieren. Das hat uns Selbstvertrauen gegeben. Wir wissen jetzt, dass wir nicht nur für uns etwas tun, sondern auch für andere asiatische Länder.

Warum ist die Demokratiebegeisterung nicht auf China übergesprungen?
Es gibt auch dort Menschenrechtsaktivisten und studentische Meinungsführer. Aber das hat sich nicht zu einer sozialen Bewegung entwickelt. In Taiwan und Südkorea hatte die Mittelklasse nach kleineren wirtschaftlichen Erfolgen demokratische Reformen gefordert. Das ist bei den Chinesen nicht passiert. Dafür war ihr wirtschaftlicher Erfolg schlicht zu riesig. Die chinesischen Machthaber realisierten, dass sie Demokratie nicht brauchten. Die Regierung hat auch viel stärker als andere autoritäre Systeme neue Technologien benutzt, um die Menschen zu kontrollieren.

Immenser wirtschaftlicher Erfolg und Überwachungstechnologien haben die Chinesen von der Demokratie abgehalten?
Hinzu kam, dass die Chinesen im Vergleich zu anderen autoritären Regimes freundlicher behandelt wurden. Kleinen oder mittleren Ländern wie Taiwan und Südkorea hat man noch internationale Regeln und Demokratie aufzwingen können. Mit China konnte der Westen das nicht machen – dafür ist es zu gross. China hat viele Versprechen gebrochen und seine Werte nie geändert. Der Westen realisiert erst jetzt, dass er in den letzten dreissig Jahre etwas falsch gemacht hat: Er hoffte, China würde das nächste Taiwan oder Südkorea werden – aber das ist nicht passiert. Stattdessen folgt Thailand dem chinesischen Weg und viele Demokratien entwickeln sich rückwärts. Gleichzeitig infiltriert China Europa, Australien, Kanada und die USA.

„Viele Kreative gingen nach China.
Unsere Filmindustrie wurde ausgehöhlt.“

Wie versuchen die Chinesen Taiwan zu beeinflussen?
Die chinesische Unterwanderung geht sehr tief. Sie bezahlen zum Beispiel Beamten China-Ferien im Nobelhotel, geben Gemeinden Geld oder sponsern religiöse Gruppen, so dass diese ihre Tempel verschönern können. An Schulen organisieren sie Musik- und Filmwettbewerbe, versprechen den Siegern Geld und Publicity. Die Chinesen sind überall. Deswegen haben wir im Parlament im Dezember ein Anti-Unterwanderungs-Gesetz verabschiedet. Jetzt können Geld- und Haftstrafen verhängt werden, wenn feindliche ausländische Kräfte mit Spenden, Lobbying oder Desinformation unser Land beeinflussen.

Zielt die Beeinflussung auf junge Leute? Ältere Taiwaner fühlen sich ja ohnehin als Chinesen.
Ja. Ältere Semester wurden durch die jahrzehntelange Herrschaft der chinafreundlichen nationalistischen Volkspartei beeinflusst. Sie hadern mit sich bei Themen wie Demokratie oder Freiheit. Junge Taiwaner dagegen kennen Taiwan nur als freies Land. Und sie lassen sich nicht indoktrinieren.

Weshalb nicht?
Ich glaube, dass autoritäre Regimes anders denken als wir. Wenn wir jemanden ändern wollten, dann würden wir versuchen, eine Win-win-Situation zu schaffen. Aber die Chinesen wollen nur kontrollieren und manipulieren. China versucht es aber auch mit sanfteren Methoden – über Film und Musik.

Gelingt das?
Ich denke nicht, dass sie es am Ende schaffen. Aber die hiesige Filmindustrie hat schon grossen Schaden erlitten. In den Achtzigern war Taiwan der wichtigste Filmmarkt in der Mandarin-sprachigen Welt. Wir haben über 23 Millionen Einwohner – mehr als ganz Skandinavien. Aber viele Kreative sind nach China abgewandert, unsere Filmindustrie wurde ausgehöhlt. Erst war die Bedingung, um in China tätig zu sein, in China nicht über Politik zu sprechen. Später durften die Filmschaffenden dies auch daheim nicht mehr. Und manche begannen sich selbst zu zensurieren und alles zu löschen auf ihren Social-Media-Konten, was China stören könnte. Peking zensuriert zuerst deine Inhalte, dann dein Leben. Ich möchte nicht, dass das auch in anderen Ländern passiert.

Lässt sich denn in der westlichen Filmindustrie schon chinesischer Einfluss ausmachen?
Ja, natürlich. Nicht in der ganzen Industrie, aber bei einigen Filmen wurde die Handlung geändert. Ein klassisches Beispiel ist der Actionfilm „World War Z“ mit Brad Pitt. In der Romanvorlage entweicht ein Virus in China, aber die Regierung versucht das zu verschleiern. Viele Menschen infizieren sich unwissentlich – und Taiwan ist das erste Land, das die Wahrheit herausfindet. Der Roman von 2006 war extrem nah an der heutigen Realität. Aber die US-Firma wollte sich bei China anbiedern und den chinesischen Markt nicht verlieren und hat den Ursprung des Virus kurzerhand nach Taiwan verlegt.

Wie steht es um Chinas Einfluss auf taiwanische Medien?
Die Chinesen versuchen, manche Medien als Propagandawerkzeug einzusetzen, und verbreiten Falschinformationen. Sie wollen das Vertrauen der Bürger in die Demokratie, die Freiheit und in Verbündete erschüttern. Sie wollen dir eintrichtern, dass Freiheit dein Leben nicht besser macht und dass du dich nur um deine Angelegenheiten kümmern sollest. Politik werde dich bloss frustrieren. Wir haben Organisationen, die solche Desinformation aufdecken, und sogar Apps, die Fake-News identifizieren. Aber viele ältere Leute nutzen diese nicht. Wir versuchen daher, einfachere Werkzeuge für sie zu entwickeln.

Was ist Ihr Rat für den Westen?
Wir müssen alle Menschen unterstützen, die versuchen, gegen China zu kämpfen: Hongkonger, Tibeter, Uiguren. Wir müssen zudem darüber nachdenken, wie internationale
Organisationen künftig geführt werden. Wie kann es sein, dass autoritäre Länder darin eine Führungsrolle übernehmen dürfen? Es wäre vernünftig, nur Kandidaten aus Demokratien zuzulassen, nicht aber aus Ländern wie China oder Russland. Wir brauchen mehr Mechanismen in internationalen Organisationen, um China dazu zu zwingen, internationale Werte zu befolgen. Mein Rat an den Westen: Bleibt wachsam gegenüber China, auch als Bürger. Seid vorsichtig, welche Informationen ihr austauscht.

Sie sind Sänger einer Metal-Band. Ihre Musik ist politisch, viele Fans schwenken bei Konzerten Unabhängigkeitsflaggen. Motiviert Sie die Politik, Musik zu machen?
In meiner Musik geht es um die Geschichte und Legenden von Taiwan. Metal hilft mir, komplexe Gefühle auszudrücken. Wenn ich einmal frustriert bin, dann drehe ich Metal auf, richtig laut. Durch meinen Einstieg in die Politik sind viele neue Emotionen hinzugekommen, und das hat mich inspiriert, neue Musik zu schreiben. Viele unserer Fans, auch aus dem Ausland, wollen wegen meiner Musik Taiwan entdecken und mit mir über unsere Politik und Geschichte diskutieren.