Journalistin, Aufnahmeleiterin & Filmemacherin in Japan

Hikikomori:
Für immer im Kinderzimmer

Es ist ein Massenphänomen in Japan: Junge Leute, die sich dem sozialen Druck verweigern und sich oft jahrelang verschanzen. Ayako Oguri versucht, sie aus ihrer Isolation zu holen – als ihre Schwester auf Zeit.

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Ayako Oguri ist unruhig. Immer wieder sieht die 39-Jährige auf die Uhr. Dann greift sie zum Smartphone. Ihr Schützling Ichiro Yano* hätte schon vor einer halben Stunde am Treffpunkt sein sollen, einem Spiele-Café im Nordosten Tokios. Als sie ihn endlich am Apparat hat, hört sie Bahnhofslärm, dann bricht die Verbindung ab. Sie versucht es wieder, doch auf weitere Anrufe reagiert er nicht. Sie kennt das, sie hat schon oft auf ihn gewartet.

Ichiro Yano ist ein Hikikomori – so nennt man in Japan Menschen, die sich aus der japanischen Leistungsgesellschaft zurückziehen, das Haus kaum verlassen und sich einigeln. Mehr als 500 000 Betroffene bis 40 Jahre ählte 2016 eine Studie, Experten gehen von über einer Million aus. Die Dunkelzimmer ist hoch, denn die Scham ist groß – bei Betroffenen wie Angehörigen. Die meisten Hikikomori sind junge Männer zwischen 18 und 35.

Elf Jahre kapseln sich Hikikomori im Durchschnitt ab, oft ziehen die, die noch zu Hause wohnen, sich in ihre Jugendzimmer zurück; ihre Mütter stellen ihnen das Essen vor die Tür. Andere, die allein leben, schleichen sich im Schutz der Dunkelheit zum Supermarkt und sofort zurück in ihren Kokon, meist ein zugemülltes Zimmer. Oder sie bestellen ihre Lebensmittel im Internet. Die Gründe, warum die Betroffenen schließlich doch die Tür öffnen, sind vielfältig. Manchmal stirbt ein Elternteil oder die Eltern werfen ihre Kinder schließlich doch hinaus. Andere spüren einfach, dass sie handeln müssen, weil es sonst ein böses Ende mit ihnen nimmt.

Ayako Oguri kümmert sich um diese Menschen. Sie arbeitet als „Mietschwester“ bei der Organisation New Start, die die Betroffenen dabei unterstützt, ihre Isolation zu durchbrechen. Meist schreibt Ayako Oguri zunächst Briefe, auf die nie eine Antwort kommt. Dann ruft sie an, oft vergebens. Schließlich setzt sie sich vor die Tür der Hikikomori, sucht das Gespräch. Manchmal hockt sie dort über Monate hinweg immer wieder, ohne die
Person auf der anderen Seite zu Gesicht zu bekommen. Gelegentlich donnert jemand vor Wut gegen die Tür. Sonst herrscht Schweigen. Rund 800 Euro zahlen die Eltern dafür im Monat.

Etwa ein Dutzend Mal hat sich Ayako Oguri in den vergangenen acht Monaten mit Yano, 26, verabredet. Oft tauchte er gar nicht auf. Aber heute erscheint er, wenn auch eine Stunde zu spät: ein schmaler, hochgewachsener junger Mann in schwarzer Jacke und Ringelshirt. Lange Ponyfransen fallen ihm über die Augen, auf seiner Nase trägt er eine schmale Metallbrille. Er bezahlt die Gebühr für die Brett- und Kartenspiele, die man im Café
ausprobieren kann, nickt Oguri zu und setzt sich an ihren Tisch.

Yanos Unterarme sind leicht gebräunt, für Oguri ein Hinweis, dass er das Haus für längere Zeit verlassen hat. Yano sei ein Neet, erklärt sie später, das steht für „Not in Education, Employment or Training“, nicht in Ausbildung, Arbeit oder Schulung – eine milde Form des Hikikomori-Daseins. Yano schafft es nicht, einen Job zu halten. Tagsüber vertreibt er sich die Zeit in seinem Zimmer. Ob er fernsieht, liest oder vor dem Internet sitzt, weiß sie nicht genau. Abends, wenn seine Eltern von der Arbeit kommen, schläft er bereits. Er mag nicht mit ihnen sprechen. Immerhin hat er einige Freunde – im Gegensatz zu schweren Fällen, die sämtliche soziale Kontakte verweigern.

Oguri hat weder ein Psychologie-Studium noch eine Ausbildung als Sozialarbeiterin, genauso wenig wie die meisten ihrer Kollegen bei New Start. Die private Organisation mit rund 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wurde vor 25 Jahren gegründet. Ihr Büro liegt in einem dreistöckigen Gebäude im Osten des Großraums Tokio. Seit elf Jahren arbeitet Oguri hier, vorher war sie in der Verwaltung eines Hotels in der Nähe. Dort fühlte
sie sich fehl am Platz. „Ich habe mich immer für Psychologie interessiert“, sagt sie. Über das japanische soziale Netzwerk mixi fand sie New Start, das Buch einer anderen Mietschwester inspirierte sie. Es gibt weder Jobbeschreibung noch Leitfaden für Mietgeschwister. „Die Arbeit hat viel mit Gefühl zu tun“, sagt Oguri. Sie trägt Jeans und Sneakers, will nahbar auf ihre Klienten wirken. „Wir dürfen nicht zu perfekt aussehen, das schreckt sie ab.“

Bis abends sitzt Oguri mit Yano im Spiele-Café, dann wartet der 21-jährige Naoto Takeda auf sie, den sie zuvor ins Café begleitet hatte. Sie soll ihn nach Hause bringen. Der schüchterne, blasse Mann ist erst vor einem Monat nach fünf Jahren als Hikikomori aus der Präfektur Gunma nach Tokio gezogen. Schon in der Bahn, auf dem Weg zum Café hatte Takeda einen Panikanfall – das riesige, verschlungene Verkehrsnetz der Megastadt überfordert ihn. „Ich hatte Schmerzen in der Brust. Ich habe gedacht, ich sterbe“, erzählt er. Bei ihm reiche es schon aus, wenn jemand in der Bahn tuschelt und lacht, er beziehe es sofort auf sich. „Ein Arzt hat mir eine Sozialphobie diagnostiziert, ich habe Medikamente genommen, aber es half wenig.“ Mehrfach muss er an diesem Abend auf die Toilette, weil er vor Aufregung Bauchschmerzen bekommt.

Takedas Weg ins selbstgewählte Gefängnis ist typisch für viele Hikikomori. Mit elf weigerte er sich, weiter in die Schule zu gehen. Er wurde von den anderen Kindern gegängelt. „Es gab eine Hierarchie. Ich war in der zweituntersten von vier Stufen der Gehänselten“, sagt er, klar analytisch. Weder anderen Mitschülern noch Lehrern vertraute er sich an, eine Vertrauensperson gibt es an japanischen Schulen nicht. Sein Vater zwang ihn, die Mittelschule abzuschließen, dann endet in Japan die Schulpflicht. Damals war er 15. Danach habe er sich eingeschlossen, sagt Takeda. „Ich habe Computerspiele gespielt, ferngesehen, oft bis morgens um fünf Uhr.“ Erst nachmittags stand er auf, seine Mutter brachte ihm Essen. „Mit ihr verstehe ich mich gut, aber mit meinem Vater geht es gar nicht.“

Das Leben in Japan verlaufe auf vorgezeichneten Bahnen, es sei streng durchgetaktet, von der Grundschule bis zum Job. „Wer einmal rausfällt“, sagt Takeda, „für den ist es hart“. Takeda lebt jetzt im New Start-Wohnheim,
einem alten zweistöckigen Gebäude, das wie eine der provisorischen Unterkünfte auf Baustellen aussieht. Am Eingang sind viele Paare Schuhe aufgereiht, aus der Gemeinschaftsküche kommen Stimmen.

Mehrere Männer und eine Frau, alle so um die 30, sitzen am Tisch und plaudern. Manchmal setzt er sich zu den anderen und unterhält sich mit ihnen. Er könne von ihnen lernen, sagt er, schon, weil alle so unterschiedlich seien. Die jungen Leute zwischen 18 und 45 bleiben ein halbes bis zwei Jahre im Wohnheim. Sie zahlen Miete, müssen ihr Mobiltelefon abgeben und dürfen nur im Gemeinschaftsraum fernsehen. Computerspiele sind verboten. Sie lernen kleine Aufgaben zu meistern wie Küchendienst und Freiwilligenarbeit. Später hilft man ihnen, einfache Jobs zu bekommen und diese vor allem auch zu halten.

In den 18 Jahren seit Eröffnung haben über 2000 Hikikomori mindestens ein Jahr im Wohnheim verbracht, 80 Prozent davon leben inzwischen selbstständig. Einer, der den nächsten Schritt bereits geschafft hat, ist Oguris ehemaliger Schützling Matsuo Kato. Er ist aus dem Wohnheim ausgezogen und lebt jetzt allein. Dabei hatte sich der über 40-Jährige vorher 14 Jahre lang in seinem Kinderzimmer verkrochen. Wie bei vielen war bei ihm ein Jobverlust der Auslöser. Warum er die Stelle verlor, wissen seine Eltern nicht, und auch nicht, warum er sich daraufhin von der Welt zurückzog.

Zu Matsuo Katos Eltern hatte Oguri länger keinen Kontakt. New Start schickt den Eltern von Hikikomori per Newsletter Updates über ihre Kinder, betreut sie aber nicht. Katos Eltern leben in einer Wohnblocksiedlung am Rand von Tokio. „Er war immer still. Irgendwann habe ich aufgegeben zu fragen“, sagt Mutter Mariko, eine burschikose Frau in den 70ern.

Sie zeigt das Zimmer ihres Sohnes, das seit eineinhalb Jahren unbewohnt ist. „Wir mussten ihm versprechen, dass wir nichts anfassen oder verändern.“ Bücher und Zeitschriften liegen herum, der Schrank ist ordentlich eingeräumt. Mit dem Job war damals auch der Platz im Firmenwohnheim weg, und so zog Kato wieder zu seinen Eltern zurück. Zunächst verließ er für Vorstellungstermine noch das Haus, aber irgendwann hörte das auf. Er folgte der einzigen Regel, die ihm seine Eltern setzten: gemeinsam zu essen. Aber er sprach nicht mit ihnen. Es war Oguri, die ihn schließlich aus seinem Zimmer holte. Meist saß er regungslos mit dem Kopf auf die Brust gesenkt auf einem Stuhl. „Egal, was ich gesagt habe, er hat nicht aufgeschaut.“

Das erste halbe Jahr verkroch er sich im Bett, wenn sie kam. „Im zweiten halben Jahr hat ihn sein Vater mit aller Kraft da herausgezogen“, sagt sie, am Küchentisch der Familie. An der Wand hängen alte Familienfotos mit Matsuo mit seinen Geschwistern. „Er war ein lebhaftes Kind, bis er etwa zehn war“, sagt die Mutter. Viele Eltern machen sich Vorwürfe, auch die Katos. „Wenn ich mehr Zeit zum Zuhören gehabt hätte…“, sagt die Mutter. Doch sie sei so beschäftigt gewesen, die Arbeit, die drei Kinder, die sie fast allein aufzog, weil ihr Mann beruflich oft fort war. „Ich denke, es hätte keinen Unterschied gemacht“, beruhigt Oguri.

Gemeinsam mit New Start beschlossen die Eltern, ihrem Sohn eine Deadline zu setzen: Entweder er sucht sich einen Job oder er muss ausziehen. Nichts passierte. Erst als der Vater den Druck erhöhte, gab er nach, ließ sich ins Wohnheim bringen. Eineinhalb Jahre sind seither vergangen. Für die Eltern war die räumliche Trennung eine Erleichterung. „Es vergehen inzwischen Tage, an denen ich nicht an ihn denke“, sagt die Mutter. Sie staunen, als sie hören, dass ihr Sohn nun allein lebt und Geld verdient, indem er Pools reinigt. Oguri zeigt ihnen ein aktuelles Foto, ein sportlich wirkender Mann im weißen T-Shirt. „Er hat zugenommen, und er ist braun geworden!“, ruft die Mutter überrascht aus. „Auf der Straße würde ich ihn nicht erkennen.“ Mehrfach bedanken sich die Eltern bei Oguri. Diese wehrt ab. „Ohne das Machtwort des Vaters hätten wir nichts tun können“, sagt sie.

Extreme Hikikomori knallen Oguri nicht nur die Zimmertür vor der Nase zu. Manche reagieren auch mit Gewalt. Oguri erinnert sich an einen jungen Mann, der sich wochenlang in seinem Zimmer verbarrikadiert
hatte, plötzlich herausstürmte und einen CD-Recorder in ihre Richtung warf. „Ich nehme mir Dinge nicht so zu Herzen“, sagt sie. Als Mietschwester brauche man ein dickes Fell. „Wer sensibel ist, ist für den Job nicht geeignet.“ Nach weiteren Besuchen kam der Mann erneut heraus, dieses Mal ruhig. Er setzte sich vor Oguri im Fersensitz auf den Boden. Dann beugte er sich tief nach vorn, mit der Stirn auf die vor sich gefalteten
Hände und bat sie inständig: „Bitte kommen Sie nicht wieder.“