Mutlos nach dem Tsunami
Mitten in der öden Leere, die einmal das Herz des japanischen Fischerorts Onagawa war, leuchtet ein einzelner Farbfleck. Ein buntes Graffito zeigt eine Möwe. Erst sitzt sie ruhig da, dann breitet sie ihre Flügel aus, durch die schon rote Federn blitzen. Schließlich erhebt sie sich – in einen goldrot glänzenden Feuervogel verwandelt – kraftvoll in die Lüfte. Wie ein Phönix aus der Asche möge Onagawa wiederauferstehen, das ist die Botschaft.
Die Menschen in Onagawa haben solchen Trost nötig. Als der Tsunami am 11. März 2011 Japan überrollte, wurde kaum ein Ort so stark zerstört wie das 11 000-Einwohner-Städtchen. Mehr als 800 Menschen starben hier oder gelten immer noch als vermisst. Bis zu 20 Meter hohe Wellen haben das Ortszentrum mit Bahnhof, Fabriken, Läden und Wohnhäusern einfach weggespült. Selbst in dem Krankenhaus, das hoch über der Kleinstadt auf einer Anhöhe thront, stand das Wasser im Erdgeschoss auf Brusthöhe. Ein Schlammstreifen an der Wand zeugt heute noch davon.
Ein knappes Jahr nach der Katastrophe haben viele Menschen hier nicht nur ihre Heimat verloren. Sondern auch ihren Mut. „Ein, zwei Monate danach dachten wir, wenn wir uns fünf bis zehn Jahre anstrengen, dann wird das schon wieder“, erzählt der Lehrer Kazuhiko Abe. „Es gab so viele Ideen.“ Die Schule, an der der 45-Jährige unterrichtet, entging den Wellen knapp. Abe organisierte Spenden von Schulutensilien. Er stieß eine Postkartenaktion mit an, einige der Bilder, die seine Schüler zeichneten, wurden sogar an die internationale Raumstation ISS geschickt. „Doch inzwischen sehe ich die Erschöpfung in den Herzen der Kinder“, sagt Abe.
Den Eltern geht es kaum besser. Zwar konnten die Familien mittlerweile aus Turnhallen in eigene Übergangswohnungen umziehen, bekamen ihre lange vermisste Privatsphäre zurück. Aber die Dinge des täglichen Lebens müssen sie wieder aus eigener Tasche bezahlen. „Fürs Aufräumen bekamen die Menschen wenigstens etwas Geld“, sagt der Lehrer. Zwischen 70 und 120 Euro pro Tag habe die Regierung für die Beseitigung von Schutt bezahlt. Doch das Programm lief im Oktober 2011 aus. „Seither sind viele völlig ohne Einkommen und sehen schwarz für die Zukunft.“ Manche sparten schon an den Lebensmitteln.
Denn Aussichten auf Jobs gibt es kaum. Viele Einwohner von Onagawa haben in den Fischfabriken am Hafen gearbeitet. Die aber existieren seit dem Tsunami nicht mehr. „Derzeit sind zwar zwei Fabriken im Bau“, sagt Akihiro Kimura von der örtlichen Abteilung für Wiederaufbau, „aber es wird noch bis Anfang 2013 dauern, bis die stehen.“
Die Einwohnerzahlen in der Region sinken stetig. Die Behörden versuchen, den Schwund abzubremsen, indem sie die neuen Wohnviertel in Gebieten planen, die vor einem möglichen neuen Tsunami geschützt sind. „Die Sicherheit der Bürger hat höchste Priorität“, sagt Kimura. Daher sollen die neuen Quartiere in den entlegensten Winkeln der Kleinstadt entstehen, ganze Bergkuppen sollen dafür abgetragen werden. Schon jetzt sind hoch gelegene, ebene Flächen so rar, dass Übergangswohnungen sogar inmitten eines Baseballstadions gebaut wurden.
Eine wichtige Rolle bei der Krisenbewältigung spielen nicht zuletzt Nichtregierungsorganisationen, auch wenn sie zuerst auf Widerstände stießen. Denn im hierarchischen Japan waren die Behörden gewohnt, die Zügel in der Hand zu halten. „Anfangs wussten sie nichts mit uns anzufangen“, erzählt Yasuhiro Ueshima, der für die Koordination der Freiwilligen in der Region zuständig ist. Mittlerweile hätten sie aber Vertrauen aufgebaut und würden sogar um Hilfe gebeten. Mittels Umfragen versuchen die Behörden, Wünsche der Bürger in die Planungen einzubeziehen. Viele hoffen auf breitere Straßen, eine bessere Verkehrsanbindung und den raschen Wiederaufbau der Fischereiindustrie. Ueshima fordert zudem Ausgleichszahlungen an Fischer und Bauern.
Doch bis Onagawa wieder eine normale Stadt sein wird, werden noch Jahre ins Land ziehen – auch weil die vom Tsunami auseinandergerissene Gemeinde erst wieder zusammenwachsen muss. Der Bürgermeister der ähnlich stark zerstörten Gemeinde Rikuzentakata geht davon aus, dass es 20 bis 30 Jahre dauern wird, bis sich das Leben normalisiert.