Japan macht bei Hinrichtungen kurzen Prozess
Nur wenige Stunden, manchmal nur Minuten vor ihrem Tod durch den Strang erfahren Insassen japanischer Todeszellen von ihrer Hinrichtung. Sie haben gerade noch Zeit für eine kurze Mahlzeit und ein Gebet mit einem Priester vor einer goldenen Buddha-Statue. Dann müssen sie sich in einem holzgetäfelten Raum auf ein rot umrahmtes Feld stellen, um ihren Hals die Schlinge. Die Klappe öffnet sich nach unten. Nach dem Sturz in den Tod baumelt der leblose Körper in einem klinisch weißen Raum darunter, getrennt durch eine Glasscheibe vom Publikum. Die Angehörigen und Anwälte der Verurteilten erfahren von der Hinrichtung erst lange, nachdem drei Vollzugbeamte gleichzeitig auf je einen Knopf gedrückt haben. Nur einer löst die Falltür aus.
Am Donnerstag wurden auf diese Weise erneut zwei verurteilte Mörder hingerichtet. Damit starben seit dem Regierungsantritt des liberaldemokratischen Premierministers Shinzo Abe vor einem Jahr acht Menschen durch die Hand eines Henkers. Im Vorjahr, als die Demokraten regierten, waren es sieben. 2011, im Jahr der Fukushima-Katastrophe, wurde erstmals seit dem Jahr 1992 kein Urteil vollstreckt. Derzeit sitzen nach Angaben des Justizministeriums 129 Verurteilte im Todestrakt. Für zehn Delikte kann die Todesstrafe verhängt werden, in der Praxis aber nur für vorsätzliche Tötung und Raubmord.
Am Donnerstag wurde der 63-jährige Ryoji Kagayama hingerichtet, der wegen Raubmordes aus Habgier an einer 24-jährigen chinesischen Studentin und einem 30-jährigen Angestellten verurteilt worden war. Meist wird die Todesstrafe in Japan erst ab mindestens zwei Morden ausgesprochen. Aufsehen erregte ein Fall vor einigen Jahren: Zwei Männer waren damals für den Mord an einer Person zum Tode verurteilt worden. Der zweite Mann, der am Donnerstag hingerichtet wurde, ist Mitsuo Fujishima, 55. Er ertränkte 1986 zwei Menschen in der Badewanne, aus Eifersucht. 18 Jahre hatte er auf seine Strafe warten müssen. Der zweite Verurteilte saß eineinhalb Jahre in der Todeszelle. Die durchschnittliche Wartezeit beträgt sechs Jahre.
Menschenrechtsgruppen wie Amnesty International (AI) kritisieren die japanische Praxis scharf. Die Verurteilten müssten jeden Tag mit ihrem Tod rechnen, manche würden darüber gar verrückt. Außerdem seien die Kriterien für die Verhängung der Todesstrafe unklar, kritisiert Hideki Wakabayashi, der das AI-Büro in Tokio leitet. Justizminister Sadakazu Tanigaki, der vor der Vollstreckung die Todesurteile unterzeichnen muss, verteidigte seine Entscheidung. Sie basiere auf ausführlichen Gerichtsverhandlungen. Beide Männer hätten aus Selbstsucht und ohne Gnade das Leben anderer ausgelöscht und den Familien der Opfer großen Kummer bereitet. Tanigaki wies die internationale Kritik zurück. Es handele sich um eine „innenpolitische, interne Angelegenheit“, die die Mehrheit der Bevölkerung befürworte.
In der Tat erzielt eine Kabinettsumfrage alle fünf Jahre regelmäßig Zustimmungswerte von über 80 Prozent. Das liege an suggestiven Fragen, entgegnen Kritiker. Die meisten Japaner wüssten kaum etwas über die Todesstrafe, sagte Wakabayashi auf einer Pressekonferenz im März. Der Rechtsprofessor Makoto Ida von der Universität Keio erklärt bei einem Vortrag in Tokio, die Hinterbliebenen der Opfer fühlten sich häufig gegenüber den Toten moralisch verpflichtet, den Täter einer möglichst schweren Strafe zuzuführen. „Sie betrachten dies als das Allerletzte, was sie für die Verstorbenen tun können.“ Die beiden aktuellen Urteile seien vollzogen worden, so Ida, weil „die Regierung fürchtet, dass die ‚Warteliste‘ zu lang wird und die Todesstrafe nicht mehr ernst zu nehmen sein würde. Sie haben die beiden gewählt, die auf der Liste ganz oben waren.“
Nach Tendenzen zur Abschaffung der Todesstrafe sorgte der Saringas-Anschlag auf die U-Bahn Tokio mit 13 Toten und über 6200 Menschen für ein Umdenken. Der Anführer der pseudoreligiösen Aum-Sekte, Shoko Asahara, der den Anschlag befahl, wurde zu Tode verurteilt. Seit Juni 2006 habe niemand Asahara besuchen dürfen, auch nicht sein Anwalt Yoshihiro Yasuda. Die bis 2010 amtierende Justizministerin Keiko Chiba – eigentlich eine erklärte Gegnerin der Todesstrafe – unterzeichnete kurz vor Ende ihrer Amtszeit noch zwei Todesurteile. „Ich weiß nicht, warum sie das getan hat,“, sagte Yasuda. Er vermutet, dass sie dem Druck durch Bürokraten im Justizministerium nicht mehr standhielt.