„Japans heimlicher Atomausstieg“
Der japanische Stromanbieter Kansai Electric Power Company (Kepco) nimmt heute den letzten seiner aktiven Atomreaktoren vom Netz. Reaktor Nummer 3 des Kernkraftwerks Takahama wird der gesetzlichen Routineprüfung unterzogen. Damit sind in ganz Japan nur noch zwei von 54 kommerziellen Reaktoren in Betrieb. Bis April 2012 sollen
auch diese beiden vom Netz gehen.
Sollten bis dahin keine der derzeit ruhenden Reaktoren wieder anlaufen, wäre Japan frei von Atomstrom. Dabei hat das Land – im Gegensatz zu Deutschland – nie offiziell den Ausstieg verkündet. Vor dem Nuklearunfall in Fukushima im März 2011 bestritten Japans AKW rund ein Drittel der Stromerzeugung des Landes. Laut einem im Juni 2010 gefassten Grundsatzplan sollten es bis 2030 sogar mehr als 50 Prozent werden.
In Japan werden AKW alle 13 Monate gewartet. Seit dem Unglück gingen daher immer mehr Meiler vom Netz – aber kein einziger Reaktor, der für eine Wartung heruntergefahren wurde, ist seither wieder in Betrieb gegangen. Der deutliche Effekt: Im Vergleich zum Vorjahresmonat wurden im Januar 83 Prozent weniger Atomstrom erzeugt.
Dennoch gab es entgegen manchen Befürchtungen bisher keine Stromausfälle. Denn zum Ausgleich importierte Japan mehr Öl, Gas und Kohle und nahm Wärmekraftwerke wieder in Betrieb. Allein im vergangenen Januar produzierten sie 64,5 Milliarden Kilowattstunden und damit im Jahresvergleich 28,5 Prozent mehr, meldete der Verband der japanischen Stromerzeuger (FEPC). Die hohen Brennstoffimporte wiederum trugen zu Japans historisch hohem Handelsdefizit im Januar 2012 von umgerechnet 14 Mrd. Euro bei.
Die Regierung um Premier Yoshihiko Noda hat ihre Bürger daher bereits zum Energiesparen angehalten. Das Schreckgespenst flächendeckender Stromausfälle verfehlte seine Wirkung nicht: Seit März 2011 lag der Stromverbrauch in Japan stets unter dem Vorjahresniveau. Im August 2011 wurde sogar ein Minus von zwölf Prozent erreicht. Produkte wie gelgefüllte Kühldecken fanden reißenden Absatz, einige Japaner kauften gar Kleidung mit eingebauten Ventilatoren.
Nun steht Japan kurz davor, auch die letzten Meiler abzuschalten. Wenn im Sommer die Klimaanlagen angestellt werden, könnte es daher doch noch zu Stromausfällen kommen – und in diesem Fall befürchtet die Regierung eine Flucht von Unternehmen ins Ausland. Für Kepco könnte es schon früher eng werden: Laut einem Szenario des Unternehmens könnten bereits Mitte März zu Zeiten hoher Auslastung 8,8 Prozent Kapazität fehlen.
Tokio wünscht daher, dass vorläufig stillgelegte Reaktoren wieder hochgefahren werden. Bereits im Juli 2011 hatte die Regierung verkündet, dass Reaktoren schon dann wieder in Betrieb genommen werden dürfen, wenn sie die erste von zwei Stufen eines Stresstests bestehen. Dabei werde überprüft, ob sie Erdbeben und Tsunamis überstehen können, auf die ihr Design ausgelegt ist. Erst in der zweiten Stufe des Tests würden auch „unvorhersehbare“ Unfälle wie der von Fukushima mit einkalkuliert.
Dieses Vorgehen brachte der Regierung prompt Kritik ein: Um sich ein Urteil über die Sicherheit eines Reaktors bilden zu können, müsse dieser beide Stufen durchlaufen, betonte Haruki Madarame, Vorsitzender der Kommission für Nukleare Sicherheit (NSC). Der mächtige Leiter des Kabinettssekretariats, Osamu Fujimura, sah sich daraufhin zu der unmissverständlichen Klarstellung genötigt, dass nicht die NSC, sondern die Regierung die endgültige Entscheidung treffe.
Inzwischen hat ein gutes Dutzend japanischer AKW die erste Stufe des Stresstests absolviert und die Ergebnisse bei der Atomaufsicht Nisa eingereicht. Gestern gab die Behörde ihre Zustimmung, zwei Reaktoren des Kepco-Kraftwerks in Oi in der Präfektur Fukui wieder in Betrieb zu nehmen.
Doch bisher haben Bürgerproteste jeden Neustart eines Reaktors verhindert. Und gegen den Willen der Bevölkerung wollen derzeit weder Betreiber noch Regierung eine Wiederinbetriebnahme erzwingen. „Es ist wichtig, die nötigen Schritte zu unternehmen“, um das Einverständnis der Bürger zu erreichen, sagte Kepco-Boss Makoto Yagi.