Jacinda Ardern:
Die Krise ist ihr Element
Es war der 8. März. Eine gute Woche nach der ersten Coronavirus-Infektion in Neuseeland sass die Regierungschefin mit hochgekrempelten Ärmeln am Tisch mit zwei Wissenschafterinnen. Sie nahm die Rolle einer ganz normalen Bürgerin ein, die in Zeiten der Pandemie Fragen stellt, Rat sucht – sympathisch und auf Augenhöhe mit dem Volk. Das Gespräch wurde per Facebook-Video ausgestrahlt.
Ardern blieb auch in den nächsten Wochen nahbar und unkompliziert. Ende März hielt sie über ihr Mobiltelefon eine Live-Fragestunde zu Covid-19 ab, das Bild bisweilen verwackelt und unscharf. „Ich dachte, ich gehe mal schnell online, um zu fragen, wie es euch geht, während wir alle dabei sind, uns für ein paar Wochen einzuigeln“, sagte sie im ausgewaschenen Sweatshirt. Gerade habe sie ihre knapp zweijährige Tochter Neve gefüttert. Sie sprach beruhigend, jedoch ohne zu beschönigen. Ardern war es ja, die früh und hart durchgegriffen hatte. Als die strikte Ausgangssperre begann, verzeichnete Neuseeland gerade 100 Infektionen.
Die Härte hat sich ausgezahlt. Ihr Land weist nun eine der am stärksten abfallenden Infektionskurven auf. So könnte es Neuseeland schaffen, das Virus nicht nur einzudämmen, wie dies andere Nationen anstreben, sondern es braucht es weiter ein Team von fünf Millionen“, appellierte Ardern. Die Inselnation verzeichnete am Samstag nach über 115 000 Tests 1461 Fälle und 18 Tote – über jedes Todesopfer wurde sie direkt informiert. Durch ihre empathische und zugleich entschlossene Art hat sie sich einen Namen als perfekte Krisenmanagerin gemacht.
Schon nach den Terroranschlägen auf Moscheen in Christchurch im März 2019 fiel sie durch Mitgefühl und eine klare Haltung auf. Sie erhielt viel Zuspruch dafür, den Namen des Attentäters nicht auszusprechen, um dessen rassistischen Ideen keine Plattform zu geben. Herzlich umarmte sie Angehörige der 51 Todesopfer, aus Solidarität ein Kopftuch tragend. Innert weniger Tage setzte sie strengere Waffengesetze durch.
Anfang 2017, als sie Vizechefin der Labourpartei geworden war, dürfte Ardern kaum geahnt haben, dass sie das Jahr als Parteichefin und Ministerpräsidentin beenden würde. Bei den Wahlen hatte ihre Partei noch knapp gegenüber der National Party verloren. Doch als sich die nationalistische New Zealand First zur Koalition mit Labour und den Grünen entschloss, kam die damals 37-Jährige plötzlich in die Regierung. Der „Jacinda-Effekt“ verschaffte Labour damals einen Höhenflug mit Spendenrekorden.
Sie wollte eine dezidiert linke Politik betreiben: Sozialer Wohnungsbau, Steuerreformen und ein Ende von Kinderarmut standen zuoberst auf der Agenda ihrer Regierung. Doch nach ihrem ersten Amtsjahr sprachen manche von mehr Show als Substanz. So scheiterte sie bisher mit dem Projekt „Kiwi Build“, das den Bau von 100 000 Wohnungen innert zehn Jahren vorsieht. Dafür initiierte sie im Juli 2018 ein Familienpaket mit mehr Ferien und finanziellen Hilfen. Sie engagierte sich für den Klimaschutz, setzte ein Verbot für Plastiksäcke durch. Sie reduzierte die Einwanderung, erhöhte jedoch zugleich die Flüchtlingsquote.
Ardern stammt aus einer Kleinstadt im Norden des Landes. Ihre Eltern – der Vater Polizist, die Mutter Kantinenmitarbeiterin – sind Mormonen. Weil sie sich für die Rechte der Homosexuellen einsetzt, wandte sie sich von der Religion ab. Sie studierte Politik und Public Relations und fing 2001 im Büro der Ministerpräsidentin Helen Clark an, die ihre politische Heldin war. Danach war sie auch im Beraterteam des britischen Premierministers Tony Blair, bevor sie 2008 erstmals den Schritt ins neuseeländische Parlament schaffte.
Natürlich steht Ardern unter Druck. Die Lockdown-Massnahmen und Einreiseverbote haben der neuseeländischen Wirtschaft stark zugesetzt, vor allem der Tourismusbranche, die 24 Milliarden Franken jährlich einbringt. Aber die überwiegende Mehrheit der Neuseeländer steht hinter ihr – und Ardern zeigte ihrerseits eindrucksvoll, dass sie an der Seite ihrer Bürger steht. Mitte März kürzte sie ihr Gehalt und das ihrer Minister um 20 Prozent. Niemand forderte dies von ihr – aber es zeigt einmal mehr, dass sie in hohem Mass glaubwürdig ist.