Leben hinter Betonmauern
Fünf Jahre nach dem Tsunami wappnet sich Japan gegen das Meer.
Keiko Sugawara presst ihre Hände gegen die Betonwand, viermal so gross wie sie selbst. Der bitterkalte Wind, der durch den Hafen von Kesennuma schneidet, scheint ihr nichts auszumachen. Sie lächelt fast übertrieben beim Sprechen, so als wolle sie ihre Angst maskieren. Sugawara befürchtet, dass Mauern wie diese die Zukunft der Kinder in der Region gefährden, weil sie die Natur schädigen würden. „Ich mag es überhaupt nicht, wenn Erwachsene Kindern Entscheidungen aufzwingen“, sagt die gepflegte, jung aussehende 49-Jährige. „Es tut mir im Herzen weh.“
Wer dieser Tage an der Küste im Nordosten Japans entlangfährt, verliert sich trotz Navigationssystem leicht in einem Labyrinth riesiger Erdaufschüttungen. Befehle abzubiegen, sind mit Vorsicht zu geniessen. Am 11. März 2011 hatte vor der Ostküste Japans ein Seebeben der Stärke 9,0 einen riesigen Tsunami ausgelöst. Die stellenweise über 20 Meter hohen Wellen zerstörten mehrere hundert Kilometer Küste und rissen 18 457 Einwohner aus dem Leben. Sie setzten zudem eine Havarie im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi in Gang, deren Bewältigung Jahrzehnte dauern wird.
Wiederaufbau wird sichtbar
Während rund um das AKW wegen der hohen Strahlenbelastung einige Orte noch heute so aussehen wie nach der Katastrophe, waren in der allein vom Tsunami betroffenen Region Miyagi und Iwate die Spuren der Verwüstung zwei Jahre später beseitigt. Erst jetzt, fünf Jahre nach dem Desaster, tritt dort der Wiederaufbau langsam in die sichtbare Phase ein. Viele Gemeinden haben beschlossen, teils über zehn Meter hohe Schutzwälle hochzuziehen. Dabei hatte der Tsunami vor fünf Jahren viele Mauern durchbrochen, sogar den weltweit tiefsten Wellenbrecher in Kamaishi. Immerhin habe dieser den Fliehenden sechs wertvolle Minuten Zeit verschafft, sagt der Gemeindepräsident. Die Befürworter warnen davor, dass sich ohne die Mauern der Wiederaufbau verzögere. „Wir kriegen nur Geld von der Regierung, wenn wir diese Mauer bauen“, hiess es von Politikern im Wahlkampf.
Aber Gegner befürchten, dass die Beton-Bollwerke die Natur schädigen, etwa weil sie den Nährstofffluss von den Bergen in die Buchten abschneiden. Dies würde in der ohnehin strukturschwachen Region die wichtigsten lokalen Industrien, den Fischfang und den Tourismus, hart treffen. Eine weitere Sorge ist, dass Personen, die später direkt dahinter leben und das Meer nicht sehen, sich in trügerischer Sicherheit wiegen und zu spät die Flucht antreten würden. Dies könnte noch mehr Tote fordern. „Mauern sind notwendig, um Hafengebiete vor Flut und hohen Wellen zu schützen“, betont Sugawara. „Aber ich bin gegen Betonwälle von so riesigem Ausmass.“
Eine Mauer soll auf einer Hauptstrasse in Kesennuma verlaufen, wo zu einem wichtigen Fest der Fischer der Festzug entlangzieht. Eine andere soll quer durch eine idyllische Bucht schneiden, die Sugawara und viele andere lieben, um von dort den ersten Sonnenaufgang des Jahres zu geniessen. Anfangs sei sie eine Befürworterin gewesen, räumt Sugawara ein. Doch später sei ihr klargeworden, dass die geplanten Mauern nichts gegen extrem hohe Tsunamis wie vor fünf Jahren ausrichten können, die einmal in mehreren hundert Jahren vorkommen. Sie würden nur kleine, häufigere Tsunamis im Zaum halten.
Personen, die Kritik wagen, gibt es wenige. Das Risiko, von der Gemeinschaft ausgestossen und als jemand hingestellt zu werden, der den Wiederaufbau aufhält, ist vielen zu hoch. Manche befürchten, dass die Gemeinden am Entscheid für oder gegen eine Mauer gar zerbrechen könnten. „Wenn ich mit den Leuten privat rede, stimmen viele mit mir überein“, sagt Sugawara, „aber sie trauen sich nicht, das laut zu sagen.“
Die engagierte Frau hat Beistand von unerwarteter Seite: Shigemitsu Sato arbeitet für die Baufirma, die die Mauer in Kesennuma baut. „Es gibt nur wenige Jobs in der Gegend, und ich muss auch von etwas leben“, erklärt der 40-jährige Vater von zwei Söhnen vor einem neuen Mauerabschnitt im Hafen. „Ich hoffte, ich könne den Prozess von innen beeinflussen.“ Wird die Mauer standhalten?, will Sugawara wissen. Sato ist skeptisch. Die Voruntersuchung sei ungenügend gewesen, die Mauer sei am Schreibtisch geplant worden, ohne die Umgebung einzubeziehen. Wenn schon Mauern gebaut würden, dann lieber innovativere, sagt Sato. In der jetzigen Form würde, sobald Wasser darüber schwappt, dahinter ein riesiger Teich entstehen.
Im benachbarten Minamisanriku hat Yutaka Tabata von der Debatte gehört. Der 70-Jährige bastelt mit älteren Frauen Puppen aus Stoffresten zum Zeitvertreib. Die Frage nach dem Für und Wider der Mauern, die auch dort geplant sind, löst keine grossen Emotionen aus. „Die werden zur Sicherheit gebaut“, sagt eine Seniorin neben ihm, „und damit man sich sicher fühlt.“ Tabata nickt zu dem Standardargument. Aber er wünsche sich zusätzlich breite Fluchtstrassen und Katastrophenübungen.
Fehlende Diskussionskultur
„Es gibt hier keine einfachen Wahrheiten“, sagt Christian Dimmer, Assistenzprofessor für urbanes Design an der Universität Tokio. Was Japan am meisten fehle, sei eine Kultur der Diskussion in einem ergebnisoffenen Prozess. „Eine gute Führung und ein starker Gemeinschaftssinn sind das Wichtigste“, sagt Dimmer, „wie in Onagawa.“ Obwohl dort 570 von 10 000 Einwohnern umkamen und 80 Prozent der Gebäude zerstört wurden, lehnte die Kleinstadt eine Mauer ab. Die Bewohner ziehen in hoch gelegene Gebiete. „Wir leben vom Meer und mit dem Meer“, hört man dort oft.
Trotz Rückschlägen will Sugawara nicht klein beigeben. Sie befürchtet, dass sich sonst bald Nachahmer finden und noch mehr Mauern gebaut werden. Trotz aller Leidenschaft für die Sache setzt ihr der soziale Druck aber zu. Aus Angst vor negativen Folgen für ihren Familienbetrieb, einen Elektrowarenladen, habe sie ihren Einsatz reduziert. Trotzdem gehört sie weiter zwei Gegnergruppen an und postet fast täglich dazu auf Facebook. „Ich habe meiner Familie nicht gesagt, was ich mache“, sagt Sugawara verlegen lächelnd, „aber sie wissen es vielleicht ohnehin schon.“