Journalistin, Aufnahmeleiterin & Filmemacherin in Japan
Modern life between ones and zeros – teamlab „Borderless“ exhibition in Tokyo © Sonja Blaschke
Modernes Leben zwischen Einsen und Nullen – Ausstellung von teamlab „Borderless“ in Tokio © Sonja Blaschke

Interview mit Taiwans Digitalministerin Audrey Tang

Taiwan hat Corona so gut gemeistert wie kaum ein anderes Land. Auch dank Digitalministerin Audrey Tang. Ihre Vision ist es, die Demokratie zu stärken. Dafür brauche es neue soziale Netzwerke, die den Konsens statt den Dissens förderten – und viel Humor.

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Die Frau, die das Virus gehackt hat „Ohne Reply-Taste gibt es keinen Raum für Trolle“

Die 39-jährige frühere Unternehmerin und Hackerin, heute Digitalministerin von Taiwan, lernte schon mit 8 Jahren zu programmieren. Mit 14 verliess sie die Schule, um sich im Internet weiterzubilden. Mit 15 gründete die Transgender-Frau ihre erste Software-Firma. Später beriet sie Apple. Mit 33 beendete sie ihre Firmenkarriere und widmet sich seither der Gesellschaft. 2016 wurde sie jüngstes Mitglied der Regierung.

Das Interview führten Gordana Mijuk und Sonja Blaschke

NZZ am Sonntag: Europa ist wegen der Corona-Pandemie im Lockdown. In Taiwan gibt es seit April nur eine einzige Ansteckung. Sie gehören als Digitalministerin zu denjenigen, die diesen Erfolg möglich gemacht haben. Wie haben Sie das geschafft?

Audrey Tang: Wir waren in einem gewissen Sinne gesellschaftlich geimpft: Taiwaner über 30, da gehöre ich dazu, erinnern sich, wie schlimm der erste Sars-Ausbruch 2003 war. Damals haben wir die Epidemie nicht gut gemeistert. Die Zentralregierung und die regionalen Behörden widersprachen sich, und im Heping-Spital in Taipeh, in dem es einen Infektionsherd gab, wurde erst einmal auf unbestimmte Zeit niemand mehr hinausgelassen, damit sich das Virus nicht ausbreitete. Nicht einmal das gesunde Personal durfte das Spital verlassen. Ich habe dort erst kürzlich eine Rede gehalten. Die Menschen haben das nicht vergessen.

Aber wie konnte es Taiwan besser machen?

Der Arzt Li Wenliang in Wuhan hat die Alarmglocken geläutet, als er sieben neuartige Sars-Fälle publik machte. Wir haben die Alarmglocken gehört, sofort reagiert und uns auf Quarantäne-Massnahmen fokussiert. Dann ging es darum, die Bevölkerung mit Masken zu versorgen und sie dazu zu bringen, die Hände zu waschen. Mit diesen drei Dingen haben wir die lokale Verbreitung verhindert, auch wenn es einige wenige Ausbrüche gab in den ersten Monaten.

In Europa diskutierte man monatelang darüber, ob Masken einen schützen können. Wertvolle Zeit ging da verloren. Gab es diese Diskussion in Taiwan nicht?

Unsere Botschaft war nicht: Masken beschützen vor allem die älteren Leute und Risikogruppen. Unsere Botschaft war: Masken beschützen dich vor deinen eigenen ungewaschenen Händen. Darüber braucht es keine Debatte. Das ist gesunder Menschenverstand. Wenn man eine Maske trägt, berührt man nicht ständig das Gesicht. Wer eine Maske trägt, handelt demnach vernünftig – und im Eigeninteresse.

Aber wie konnte Taiwan die Fehler von 2003 vermeiden?

Die Vision war, das Virus ohne Lockdown zu bekämpfen und ohne die Macht des Staates mittels Notrecht auszuweiten und zum Beispiel im Namen der Pandemie neue Daten zu sammeln. Wir wollten, dass die Demokratie während der Bekämpfung der Pandemie gestärkt wird. Gleich gingen wir bei der Bekämpfung der Desinformationen vor. Wir nahmen daher keine Falschinformationen oder Verschwörungstheorien vom Netz. Damit tat Taiwan das Gegenteil von China, das auf totalen Lockdown und Einschränkungen der Freiheit seiner Bürger setzte. Ich sage nicht, das chinesische Modell sei ineffektiv. Aber wenn man Leute einsperrt in ihren Häusern, setzt irgendwann eine Lockdown-Müdigkeit ein. Die Leute trauen einander und auch dem Staat weniger, der sich mehr Macht zuschanzt. Wir wollten ein Modell ohne negative Externalitäten.

Wie konnten Sie Falschinformation bekämpfen, ohne sie vom Netz zu nehmen?

Unser Prinzip lautete: „Humor over Rumor – Humor vor Gerüchten“. Wenn wir die Botschaft verbreiten möchten, dass eine Maske vor den eigenen Händen schützt, und dies mit coolen Regenbogenmasken tun, dann erinnern Sie sich vielleicht daran, aber Sie teilen die Nachricht nicht auf sozialen Netzwerken. Aber wenn ich mit Fotos von einem süssen Shiba-Inu-Hund, der sich gerade eine Pfote in den Mund steckt, die Botschaft verbreite, dann wird das sehr rasch geteilt.

Gute Witze und süsse Hunde verbreiten sich fürwahr schnell im Internet. Aber auch Verschwörungstheorien. Wie gehen Sie damit um?

Wir bekämpfen sie nicht mit Zensur, sondern mit dem Prinzip: „Notice and public notice“ („Erkenne etwas und lasse es die Öffentlichkeit erkennen“). Unabhängige Faktenchecker überprüfen Nachrichten, wenn es Hinweise gibt, dass sie falsch sind. Kürzlich wurde ein Bild von Protestierenden in Hongkong verbreitet, die grimmig dreinschauten. Das Foto stammte von der Nachrichtenagentur Reuters. Doch in der Bildlegende hiess es: Dieser 13-jährige Gangster kaufte iPhones. Das war erfunden. Die Bildlegende sollte einfach die dazugestellte Geschichte verstärken, dass die Protestierenden für Angriffe auf die Polizei bezahlt würden. Faktenprüfer belegten indes, dass die erfundene Bildlegende von Weibo-Konten des chinesischen Regimes stammen. Danach wurde die Bildnachricht, wenn sie auf sozialen Plattformen wie Facebook geteilt wurde, mit einem Verweis versehen: Diese Bildlegende stammt nicht von Reuters. Dann wissen die Leute, dass da manipuliert wurde. Mit dem Prinzip „Notice and public notice“ wird die digitale Medienkompetenz der Bevölkerung verbessert, also die Fähigkeit, zu verstehen, worum es bei der Faktenprüfung geht und wie man sie vornimmt.

Glauben die Leute den Faktenprüfern?

Sie glauben an die Faktenprüfung, nicht unbedingt den Faktenprüfern. Deshalb braucht es Medienkompetenz. In Taiwan ist das Breitbandinternet ein Menschenrecht. Jeder kann auch Medienproduzent sein. Entscheidend ist, ob spaltende Inhalte produziert werden, oder ob es Inhalte sind, die uns näher zu den Fakten bringen.

Sie betonen in Interviews oft, dass man mit Technologie die Demokratie verbessern könne. Doch gerade das Internet hat die Verheissungen nicht wahr gemacht. Wir irren in Echokammern herum und werden berieselt mit Falschinformationen. Was ist schiefgegangen?

Natürlich gab es um die Jahrtausendwende Utopien um das Internet, die hofften, das Internet würde durch die Möglichkeit der Kommunikation in Echtzeit eine neue Empathie ermöglichen und dergleichen. Doch dann wurde das mobile Web erfunden und mobile soziale Netzwerke, und die ausgewogene Berichterstattung auf grösseren Bildschirmen wich einer Touchscreen-Sucht und reduzierte die Aufmerksamkeitsspanne auf drei Zeilen Text. Dadurch verbreiten sich Verschwörungstheorien leichter. Es entstanden Echokammern. Ich nenne sie deshalb „anti-social media“. Antisozial befördert Wut, Angst und Abscheu und polarisiert.

Wie wollen Sie das ändern?

Es gibt einen anderen Weg, der eigentlich zu „pro-social media“ führen kann. Es geht darum, dass Leute sich ja über dieselben Dinge Sorgen machen und sich gemeinsam auf diese Probleme konzentrieren können statt auf Diskriminierung.

Ja, aber wie überzeugen Sie die Leute und wie genau gehen pro-social media?

Menschen müssen nicht überzeugt werden. Man muss ihnen bloss zuhören. Sie müssen gehört werden. Und wenn man diese Erfahrung des Gehörtwerdens skalieren kann, dann erkennen die Leute, dass sie viel mehr gemeinsam haben, als sie zuerst dachten. Dazu haben wir ein spezielles Design erarbeitet, in dem es keinen Antwortknopf, keine Reply-Taste gibt. Die Teilnehmer einer Diskussion können andere Leute nicht mehr attackieren und ihnen das Leben schwer machen. Sie können nur zustimmen oder ablehnen und eigene Posts hochladen.

Was wäre ein Beispiel für pro-social media?

Auf der Pro-social-media-Plattform Polis haben wir zum Beispiel über den Taxidienst Uber diskutiert, als die Firma nach Taiwan gekommen war. Ich postete damals, dass es eine Fahrgastversicherung brauche. Wer mir zustimmte, näherte sich mir an auf der Plattform, wer dagegen war, distanzierte sich. Aber niemand konnte mir direkt antworten oder meine Aussage kommentieren. Ohne Reply-Taste gibt es auch keinen Raum für Trolle. Man kann nur seine eigene Meinung teilen. Jedes Mal, wenn wir eine Polis-Debatte laufen lassen, zeigt sich, dass extreme und polarisierende Meinungen jeweils nur 5 Prozent ausmachen und dass die meisten Leute sich über die meisten Dinge einig sind. Bei Uber war der Konsens: Es braucht eine Versicherung, eine Registrierung, und es darf keine Preiskriege geben. Diese Punkte haben wir dann in einem gesetzlichen Regelwerk festgesetzt und Uber legalisiert. Das Beispiel zeigt die Kraft, die ein grober Konsens und prosoziale Netzwerke haben können.

Damit bringen Sie vor allem die negative Kritik zum Schweigen. Die kann doch auch wertvoll sein?

Was ich sage, ist, dass es die gegenseitigen, persönlichen Attacken nicht braucht. Wir fokussieren einfach auf die Dinge, über die wir uns einig sind, unabhängig von dem, worüber wir uns nicht einig sind. Theoretisch gibt es immer einen Konsens.

Es gibt immer einen Konsens? Wer moderiert denn diese Polis-Debatten?

Niemand. Die Technologie dient nur als Hilfsintelligenz. Sie analysiert, was die Leute uploaden oder downloaden. Der Code analysiert die Hauptbestandteile der Debatte, die wichtigsten Trennlinien und zeigt das dynamisch
auf X-Y-Achsen auf mit Clustering-Programmen, um herauszufinden, wer ähnlich denkt. Die Technologie fällt keine Entscheidungen. Die kollektive Intelligenz der Teilnehmer entsteht von selbst, meistens nach drei Wochen.

Könnten denn solche Konsensfindungen auf Pro-social-media-Debatten die Arbeit von Parlamenten ersetzen?

Pro-social media ermöglichen es, einen groben Konsens zu finden – durch die Skalierung des Zuhörens. Man nutzt die kollektive Intelligenz. Dies ersetzt aber die parlamentarische Arbeit nicht, sondern verbessert sie. Das Parlament kann sich dann auf die Ausarbeitung konkreter öffentlicher Dienste konzentrieren.

Taiwan könnte dasselbe drohen wie Hongkong, wo China die demokratischen Rechte platt walzt. Fürchten Sie sich davor?

Wir sind der Widerstand. Das sage ich nicht leichten Herzens. Die Generation meiner Eltern und Grosseltern hat sehr hart für die Demokratie gekämpft. Taiwan hatte immerhin die längste Phase mit Kriegsrecht der Menschheitsgeschichte. Es gab keine Pressefreiheit. Meine Eltern waren beide Journalisten. Sie mussten Selbstzensur betreiben. Sie mussten viel kämpfen. Oft waren sie sogar angewiesen auf Journalisten in Hongkong, die mehr Medienfreiheit genossen, um über die Menschenrechtslage zu schreiben. Heute ist die Lage umgekehrt.

Würde die internationale Gemeinschaft Taiwan zu Hilfe eilen, wenn es von China angegriffen würde?

Das ist keine „Wenn“-Frage. Das Regime greift uns bereits an – mit Desinformationskampagnen sowie Cyberangriffen. Wir sahen die Gefahr schon 2014, als sich Taiwan gegen den chinesischen Einfluss mit Massendemonstrationen und der Besetzung des Parlaments wehrte. Wir diskutierten damals, wie wir uns vor China schützen können, und kamen zum gesellschaftlichen Konsens, dass wir keine sogenannten privaten chinesischen Firmen für den Aufbau der Telekom-Infrastruktur Taiwans nutzen wollen. Denn das Regime in Peking könnte die Leitung dieser sogenannten privaten Firmen jederzeit auswechseln und sie zu staatlichen Akteuren machen, spätestens beim nächsten Upgrade des Netzes. Wir entschieden deshalb, auf unsere eigenen Firmen zu setzen oder auf Nokia und Ericsson, die nicht vom Staat diktiert werden. Der nationale Sicherheitsrat stimmte der Bewegung auf den Strassen zu. Seit 2014 haben wir keine chinesischen Bestandteile mehr in unserer sensiblen Infrastruktur. Nun beobachten wir, dass auch andere Länder dieselbe Debatte um 5G führen, die wir schon bei 4G geführt hatten.

Viele Länder setzen aber dennoch auf chinesische Anbieter. So etwa die Schweiz oder Deutschland. Ist das ein Fehler?

Es wäre ein Fehler, keine gesellschaftliche Debatte darüber zu führen. Mein Punkt ist, dass die Gesellschaft gemeinsam diese Norm setzen sollte, nicht ein oder zwei Leute in irgendwelchen Ministerien.

Sie haben sich 2014 aus dem Berufsleben zurückgezogen. Warum?

Ich verkaufte mein Unternehmen und wollte lieber meine gesamte Zeit dem Engagement für die Gesellschaft widmen. So kann ich meine Leidenschaft für frei zugängliche Software kombinieren mit meinem Interesse für Demokratie und deren Weiterentwicklung. Dies erlaubt es mir, über Demokratie als Technologie nachzudenken. So könnte man zum Beispiel die Stimmabgabe alle vier Jahre mit dem Upload von drei Bits an Daten gleichsetzen – und falls man noch Volksabstimmungen dazu nimmt, sind es vielleicht fünf bis sieben Bits pro Person. Wenn wir aber Plattformen wie Polis verwenden, dann würden wir gleich mehrere Kilobytes pro Tag hochladen – das würde die Bandbreite der Demokratie erweitern.

Kann Technologie alle Probleme in Demokratien lösen?

Nein, Technologie soll demokratische Prozesse nur unterstützen. Auch in Autokratien, die künstliche Intelligenz nutzen, sind es letztlich Menschen, die andere Menschen versklaven.

Sie nennen sich „Poetician“ – was ist das?

Ich arbeite hauptsächlich mit Wörtern, so wie das Poeten tun. Mein Job ist es etwa, komplizierte Richtlinien auf etwas Einfaches herunterzubrechen wie bei „Humor over rumor“. Mein wichtigster Job ist es, Ideen zu haben, die zu verbreiten sich lohnt.

Wie sieht Ihre Vision für Taiwan aus?

Jedes Jahr wächst Taiwan zweieinhalb Zentimeter in den Himmel. Wir sitzen nämlich auf der Trennlinie zwischen der eurasischen und der philippinischen Erdplatte, die ständig aufeinanderstossen. Diese Spannung, dieser Druck, der dort aufgebaut wird, erleichtert uns die Vorstellung, dass Innovation etwas ist, das Widerstand überwindet. Und wir bewegen uns dabei nicht nach links oder rechts, sondern nach oben. Taiwan wächst also in den Himmel – seit ein paar Millionen Jahren.

Woher stammt Ihr Optimismus?

Vom Gutenberg-Projekt, der weltweit grössten kostenlosen Literatursammlung im Internet. Als ich mit 14 Jahren die Schule verlassen habe – mit der völligen Zustimmung der Direktion –, habe ich angefangen, mich im Internet weiterzubilden. Damals habe ich die meiste Zeit Werke aus dem Gutenberg-Archiv gelesen. Dort sind alle Texte vorhanden, bei denen das Copyright abgelaufen ist. Damals waren das alles Bücher, die vor dem Ersten Weltkrieg
erschienen sind. Ich glaube, zum Teil ist mein Optimismus darauf zurückzuführen.

Kinder sollten also nichts lesen, was nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs geschrieben wurde.

Das könnte der Schlüssel sein!