Journalistin, Aufnahmeleiterin & Filmemacherin in Japan
Frau Nakata war ein Jahr alt, als ihre Mutter mit ihr vor US-Bomben in diesen Keller flüchtete – mit Dutzenden Nachbarn und Passanten © Sonja Blaschke
Frau Nakata war ein Jahr alt, als ihre Mutter mit ihr vor US-Bomben in diesen Keller flüchtete - mit Dutzenden Nachbarn und Passanten © Sonja Blaschke

Der vergessene Bombenangriff auf Tokio vor 80 Jahren

In der Bombennacht von Tokio 1945 starben mehr als 100.000 Menschen. Als eines von wenigen Gebäuden überstand das „Eagle Building“ den Angriff. Heute wohnt dort im dritten Stock eine Frau, die als Kleinkind den Feuersturm überlebte.

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Frau Nakata blickt durch die breite Fensterfront eines Cafés auf die viel befahrene Edo-dori-Avenue im Zentrum Tokios: „Wann man rausschaut, kann man sich kaum vorstellen, dass hier herum einmal alles abgebrannt war.“ Sie wirkt einen kurzen Moment nachdenklich. Tatsächlich würde ohne das Gebäude womöglich weder die 81-Jährige selbst, noch ihre drei Jahre jüngere Schwester, Frau Yakuwa, hier Café latte trinken. Das Gespräch findet in ihrem Elternhaus in Nihombashi Bakurocho statt, einem Großhandelsviertel für Textilien und Kleinwaren. Durch seine spezielle Bauweise hat das fünfstöckige Gebäude im Zweiten Weltkrieg beim weltweit schlimmsten Luftangriff mit
konventionellen Waffen über 60 Menschenleben gerettet – nicht zuletzt eben ihr eigenes. „Darüber habe ich mir nie Gedanken gemacht“, wiegelt Frau Nakata schnell ab. „Außerdem kann ich mich nicht daran erinnern.“ Schließlich sei sie damals erst ein Jahr alt gewesen. Weder sie noch ihre Schwester wollten sich mit der Geschichte profilieren, betont sie. Es sei die Stadtverwaltung von Chuo gewesen, die an ihre Mutter Takako herangetreten sei, um ein Stück Zeitgeschichte zu bewahren. Takako Nakata hat, bevor sie einen Monat nach ihrem 100. Geburtstag 2021 starb, ihre Erinnerungen an jene Schicksalsnacht erzählt.

Die Gräuel der US-Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, die je nach Schätzung zwischen 110.000 und 210.000 Opfer forderten, sind weltweit bekannt. Dem gegenüber ist der Feuersturm von Tokio (Codename „Operation Meetinghouse“) weder international ein Thema, noch gibt es in Japan eine vergleichbar aktive Erinnerungskultur. Dabei kamen in der Nacht vom 9. auf den 10. März 1945 rund 100.000 Menschen in der japanischen Hauptstadt ums Leben – viermal mehr als in der Bombennacht von Dresden im Februar 1945. Unter den Toten waren doppelt so viele Frauen wie Männer, fast 40 Prozent waren jünger als 19 Jahre. Sie verbrannten, erstickten oder ertranken, als sie in Panik in die Flüsse sprangen. Über die Hälfte Tokios wurde zerstört, weite Teile vor allem im Osten waren wie ausradiert. Mit Ausnahme weniger Gebäude aus Stahlbeton – wie eben das „Eagle Building“, in dem Familie Nakata lebte.

Das „Bridge Coffee & Icecream“, das dort im Jahr 2017 einzog, ist ein hippes, gemütliches Café, beliebt bei Stammgästen vor der Arbeit und bei Touristen, die eine Pause brauchen. Als Nisa Sato vor vier Jahren die Leitung übernahm, kannte die 30-Jährige die Geschichte des Hauses nicht. Doch die Nacht der Feuerbomben war ihr ein Begriff: „Ich war damals in der Mittelschule, als ich davon erfuhr. Ich erinnere mich noch genau, was für ein Schock das für mich war.“ Der Cafébesitzer, eine Werbefirma, hat an der Kasse eine Broschüre über das Gebäude mit der auffälligen dunkelblauen Fliesenfassade ausgelegt – auch auf Englisch. „Vor allem ausländische Gäste nehmen die Broschüre mit“, beobachtet Sato. Über dem Eingang zu den Wohnungen prangt der goldene Kopf eines Adlers. Es ist das Logo des lange dort ansässigen Papiergroßhandels der Familie Nakata.

Das Gebäude war 1928 gebaut worden, nur fünf Jahren nach dem Kanto-Erdbeben der Stärke 9,0, das zu den schwersten der Geschichte zählt. Es löste verheerende Brände in Tokio und Yokohama aus. Über 140.000 Menschen starben. Mithilfe von Wiederaufbaugeldern gab man dem „Eagle Building“ dicke Wände und nutzte feuerfeste Materialien. Außerdem bekam das Gebäude einen Keller, den die Familie später zum Luftschutzbunker umbaute. Gerade zwei Meter hoch und 67 Quadratmeter groß bot er Platz nicht nur für Tatamimatten, Lebensmittel, Kerzen und Medikamente, sondern auch für Dutzende Geflüchtete, wie sich herausstellen sollte.

Die Nacht auf den 10. März 1945, so berichtete Takako Nakata, fing an wie so viele seit dem 25. Februar. Mit einem Luftalarm. Doch sogleich wurde dieser wieder abgebrochen. Als die Sirenen erneut losheulten, habe sie an einen Fehlalarm geglaubt und sich noch einmal umgedreht. Takako lebte mit ihrer einjährigen Tochter im fünften Stock, ganz oben; ihr Mann war seit 1943 im Krieg. Erst als ihr Großvater brüllte „Bomben! Ab in den Keller!“, eilten sie los. Ihre Mutter und die Großmutter hingegen beharrten darauf, im vierten Stock zu bleiben. „Wenn wir getroffen werden, sterben wir sowieso“, fanden sie. Kurz zuvor hatte man eine Nachbarsfamilie verkohlt aus einem Luftschutzkeller geborgen.

Die Nakata-Schwestern vor dem „Eagle Building“ im März 2025 © Sonja Blaschke
Die Nakata-Schwestern vor dem „Eagle Building“ im März 2025 © Sonja Blaschke

Die Frauen waren es auch, die gemeinsam mit einer beherzten Haushaltshilfe verhinderten, dass das Feuer aus zwei benachbarten Gebäuden, die in Flammen aufgingen, durch ein nur notdürftig
geschütztes Fenster in ihr Haus eindrang. Währenddessen zwängten sich immer mehr Nachbarn und Fremde herein. Als irgendwann der Keller voll war, füllten sich die oberen Stockwerke. Im Keller kauernd hörte Takako Geräusche, die für sie wie vorbeifahrende Züge klangen – ein Brausen, ein Rauschen, ein Zischen erfüllte die Luft. Der Strom fiel aus, bald saßen sie nur bei Kerzenschein. Anfangs hätten sich viele noch aufgeregt unterhalten, darüber gesprochen, dass sie Angst hätten, und sich gefragt, ob es wohl gut gehen würde, schreibt Takako in ihren Erinnerungen. „Aber wenn dieses Gebäude nicht standhält, dann auch kein anderes“, hätten viele gesagt.

Doch bald verstummten die Stimmen, alle warteten bang. Takako selbst gab sich dem Schicksal hin. Der Strom fiel aus, auch das Radio spielte nicht mehr. Als sie sich im Morgengrauen endlich nach oben wagten, ging Takako
aufs Dach: „Ich sah verbrannte Erde, so weit das Auge reichte.“ Selbst andere Stahlbetonhäuser, deren Äußeres noch stand, waren im Innern ausgebrannt. „Der trockene Wind und die verbrannt riechende Luft stachen in meinen Augen“, erinnerte sie sich. Heute ist der schützende Keller – ein kahler Raum mit nackten Wänden und einer einfachen Glühbirne – weitgehend leer. Café-Chefin Sato erzählt, ihr Vater habe den Krieg im Norden Japans überlebt, aber seine Eltern verloren. „Krieg ist nicht gut, Japan weiß das so gut wie kein anderes Land“, sagt Sato im Hinblick auf die Atombomben, deren Abwurf sich im August zum 80. Mal jährt.

Die Nakata-Schwestern sagen, in ihrer Familie sei über den Krieg kaum gesprochen worden – außer, dass es an allem mangelte und es nichts als Kartoffeln zu essen gab. Auch in der Schule hätten sie nichts über die Weltkriege gelernt. Sie zögern, sich zur aktuellen weltpolitischen Lage zu äußern. „Wir können das nicht beurteilen“, sagen sie. „Das ist alles so verwirrend. An einem Tag ist die Lage so, am nächsten Tag wieder anders.“ Ohnehin könnten sie nichts tun als zu hoffen, dass der Frieden bewahrt würde. Viel lieber wollen sie das Vermächtnis ihrer Mutter hochhalten, die ihre letzten Atemzüge im „Eagle Building“ nahm und mit einem „Danke“ auf den Lippen gestorben sei. Ihre Töchter beschreiben sie als eine Frau, die sich noch bis ins hohe Alter für die Nachbarschaft engagierte und in einer Vereinigung zur Unterstützung von Kriegswaisen war. „Ihr Terminkalender
war noch mit 80 schwarz vor Einträgen“.

Die glitzernden Stahl- und Glasfassaden im modernen Tokio täuschen darüber hinweg, dass Häuser aus Holz und Papier eine lange Tradition in Japan haben. Mit deren Risiken würden Japaner leben, sagen die Schwestern. Japaner
nehmen es als gegeben hin, dass Häuser mal brennen, und dann baut man sie eben wieder auf. Sie fixieren sich nicht darauf, was vorbei ist“, sagen sie. Auch ihre Mutter habe immer nach vorne geschaut. Zum Glück hatten sie einen Urgroßvater, der sich nicht dem Schicksal vieler fügen wollte, als er das „Eagle Building“ baute.