Aufstand im Tal der Glühwürmchen
Vor dem Eingang zur Baustelle im Kobaru-Tal hat sich an diesem Montagmorgen ein knappes Dutzend Frauen versammelt. Ihre Gesichter verbergen sie hinter Tüchern und Masken, auf ihren Köpfen sitzen breitkrempige Hüte mit Fliegennetzen. Alle tragen blaue, knielange Jacken vom lokalen Glühwürmchen-Fest. So zeigen sie Zusammengehörigkeit – und verschleiern gleichzeitig ihre Identität. Auf Schildern und Plakaten steht „Wir sind gegen den Damm“ oder „Hört auf mit dem Dammbau und der Zwangsenteignung“. Die Stimmung ist spürbar angespannt. Seit Monaten geht das fast jeden Tag so.
Männer verboten
Als mehrere Autos heranfahren und Männer in Arbeitsoveralls, Gummistiefeln und Helmen aussteigen, rücken die Frauen noch dichter zusammen. Die Männer kommen von einem Bauunternehmen beziehungsweise von der Verwaltung der Präfektur Nagasaki. Letztere versucht seit über fünfzig Jahren, zwischen der Gemeinde Kawatana und der kleinen Siedlung Kobaru einen grossen Damm zu bauen – gegen den erbitterten Widerstand der Anwohner. Wo sich Wiesen, Felder und Wälder erstrecken, sollte eigentlich längst eine 234 Meter breite und 55 Meter hohe Betonmauer das Wasser stauen. Dann wäre das idyllische Tal bereits Geschichte. Zu sehen sind bis jetzt aber nur einige Absperrungen und Baumaschinen; ab und zu schnitten Arbeiter Bäume und Büsche auf dem Gelände zurück, sagt eine Aktivistin. Statt im März 2017, wie zuletzt geplant, soll der Damm nun im März 2022 fertig sein. Während die Beamten und Bauarbeiter auf und ab gehen und an die Frauen appellieren, sie durchzulassen, verlieren die Demonstrantinnen kein Wort. Nach der Protestaktion erklärt Sumiko Iwashita das Schweigen: „Wenn wir reden, regen wir uns nur auf.“ Sie bekämen nur Entschädigungszahlungen angeboten, ein echtes Gespräch finde nicht statt. Denn der Ishiki-Damm ist nach Ansicht der Behörden nötig, um Überschwemmungen am nahen Kawatana-Fluss zu verhindern sowie die vierzig Autominuten entfernte Stadt Sasebo zuverlässig mit Wasser zu versorgen. Dort musste vor Jahrzehnten das Wasser vorübergehend rationiert werden.
Die Bewohner von Kobaru halten Statistiken vom angeblichen Wassermangel in Sasebo für übertrieben. Dank neuer Technologie sei der Wasserverbrauch gesunken. Ein vorausgesagter Bevölkerungsanstieg sei nie eingetreten; ein Blick auf die Statistik zeigt, dass die Einwohnerzahl seit 1955 stets bei rund 260 000 Menschen lag und zwischendurch sogar zurückging. Die Dammgegner vermuten den Einfluss Tokios: Die seit Jahrzehnten regierenden Liberaldemokraten setzen traditionell auf Infrastrukturprojekte, um die Wirtschaft anzukurbeln.
Die Protestbewegung kennt all die Argumente für den Damm; und sie lässt sich nicht einschüchtern: Sechs Tage die Woche, von sieben Uhr morgens bis in die Abendstunden, blockieren die Frauen, flankiert von auswärtigen Unterstützern, den Zugang zum Gelände. Die meisten sind Rentnerinnen. Den in Kobaru wohnenden Männern hingegen, die den Protest zunächst anführten, ist die Teilnahme seit 2015 unter Strafe verboten. Sie wurden von einem Gericht wegen Behinderung von Bauarbeiten verurteilt. Das Gericht mag gehofft haben, dass die Protestbewegung auseinanderbreche, wenn einmal die Anführer wegfielen, vermutet eine Aktivistin. Dank den Frauen von Kobaru gehen die Sitzstreiks und Menschenketten jedoch weiter. Durch Verschleierung ihrer Identität versuchen sich die Frauen vor neuen Klagen zu schützen.
„Da wir nicht so viele sind, können wir uns nicht abwechseln. Deswegen bringen wir unser Mittagessen und Wasser mit, ausserdem Regenkleidung und Schirme“, erklärt Iwashita. Die 66-Jährige mit dem schulterlangen Pagenschnitt ist eine von sechzig Personen, die nach Jahrzehnten des Kampfes gegen den Damm noch immer im Kobaru-Tal wohnen. Mit ihrem Mann und einem Sohn wohnt sie in einem stattlichen Haus etwas erhöht am Rande einer Ebene. Sie liebe die Natur, sagt sie lächelnd: „Immer singen die Vögel.“ Am Strassenrand in der Siedlung stehen Tafeln: „Wenn Ihre Heimat verschwinden würde – wie würden Sie sich fühlen?“
Die Präfektur Nagasaki beteuert, man habe versucht, das Verständnis der Grundbesitzer zu bekommen. Tatsächlich ruhten die Bauarbeiten fast dreissig Jahre lang – bis 2009. Damals beschlossen die Behörden, vom Enteignungsgesetz Gebrauch zu machen. Das ist in Japan aussergewöhnlich. In der Regel versuchten die Behörden, die Betroffenen von einem Projekt zu „überzeugen“, wenn nötig mit Druck – und auch Geld, vermuten die Dammgegner. Im Dezember hatte ein Gericht die Klage der Gegner auf Baustopp abgeschmettert. An einem frühen Sonntagmorgen im Januar – als der Protest ruhte – brachten Arbeiter schweres Gerät auf das Gelände des geplanten Dammes. Seither gehen die Konfrontationen vor dem Bauzaun weiter. Parallel ist seit bald drei Jahren eine Kommission dabei, die Grundstücke der verbliebenen Haushalte zu bewerten und die Höhe der Entschädigungszahlungen zu bestimmen. So wird die Enteignung vorangetrieben.
Beide Seiten wittern Verrat
Das fortgeschrittene Alter der Demonstrantinnen täuscht darüber hinweg, dass unter den Bewohnern der Kobaru-Siedlung auch jüngere Menschen sind. Shinya Kawahara, 43 Jahre alt, leger gekleidet, sitzt im örtlichen Gemeindehaus. An den Wänden hängen alte Fotos von den Demonstrationen, handgeschriebene Plakate sowie mit ermunternden Parolen beschriebene Fahnen von Unterstützern aus dem ganzen Land. Geboren und aufgewachsen in Kobaru, kann sich der Schichtarbeiter in einer Keramikteilefabrik nicht vorstellen, woanders zu leben. Er liebt es, mit seinen Teenager-Töchtern am Fluss zu spielen, den Flug der Glühwürmchen zu verfolgen, Vögel zu beobachten oder Käfer zu sammeln. „Das ist die einzige Heimat, die wir haben. Ich denke, es ist natürlich, dass wir diese beschützen wollen“, sagt er. Als Elfjähriger sei er 1982 dabei gewesen, als die Polizei angerückt sei, damit Beamte das Land hätten vermessen können. Er habe gesehen, wie die Polizisten Grossmütter weggetragen hätten. Weinende Kinder seien hochgehoben oder zu Boden geworfen worden. Er selbst schlug einem Polizisten in den Bauch – aber dieser trug Metallplatten unter dem Hemd. Gedanken darüber, dass er vielleicht doch einmal wegziehen müsse, verdränge er. „Ich werde in Kobaru alt“, sagt er bestimmt.
In der 14 000-Einwohner-Gemeinde Kawatana, zu der das Kobaru-Tal gehört, gibt es ein Neubaugebiet für jene, die gegangen sind. Obwohl sie nur wenige Kilometer weiterzogen, herrscht zwischen den früheren Nachbarn der älteren Generation Funkstille. Beide Seiten fühlen sich verraten. Die Familie von Isshin Taguchi lebt seit über hundert Jahren in der Region, allerdings in Kawatana, flussabwärts des geplanten Dammes. Der parteilose Lokalpolitiker und frühere Ministerialbeamte aus dem konservativen Lager leitet das Komitee für den Dammbau. Für ihn ist das entscheidende Argument die Flutprävention. In den neunziger Jahren war ein Teil der Stadt nach starken Regenfällen überschwemmt. „Ich bin auch nicht unbedingt dafür – aber der Damm ist einfach nötig“, sagt er schulterzuckend. Wenn Experten den Damm als notwendig erachteten, könne man nichts tun. Taguchi glaubt, dass eine stille Mehrheit den Damm wolle, sich aber nicht traue, dies laut zu sagen.
Die Präfektur Nagasaki streicht hervor, dass 1948 und 1990 Überschwemmungen grosse Schäden verursacht hätten. Mit dem Ishiki-Damm sei man auf Fluten vorbereitet, wie sie statistisch einmal in hundert Jahren vorkämen. Die verbliebenen Bewohner von Kobaru haben seit dem brutalen Polizeieinsatz von 1982 das Vertrauen in die Präfekturverwaltung verloren. Die Behörde räumt selber ein, dass die Aktion den Anwohnern „tiefe Wunden im Herzen“ zugefügt habe. Der damalige Gouverneur habe darauf Entschuldigungsbriefe geschickt und die Betroffenen persönlich aufgesucht. Den Misserfolg dieser Versöhnungsversuche sieht man noch heute in Form von vier Schriftzeichen, die an der Haustüre von Isamu Ishimaru stehen. Sie bedeuten: „Wir verbitten uns Unterredungen.“ Der 66-Jährige ist zutiefst enttäuscht von der Politik. Der damalige Gouverneur habe sein Versprechen gebrochen, wonach der Damm nicht gebaut werde, wenn auch nur eine Person dagegen sei. Das habe ihn schockiert, denn schliesslich arbeiteten Beamte doch nach dem Gesetz. Ishimaru muss es wissen: Er war selbst Beamter. Sein Chef wusste von seinem Widerstand, sah jedoch darüber hinweg.
Obwohl Ishimaru erst 1978 nach Kobaru kam, nennt er das kleine Tal seine Heimat. „Hier ist die traditionelle Art und Weise der japanischen Gesellschaft erhalten geblieben.“ Ishimaru geht einige Schritte auf einer kleinen Zufahrtstrasse zu seinem Haus, in dem er mit seiner Familie lebt. Er blickt über die grünen Reisfelder. Libellen schwirren durch die klare Luft, zwischen den Reispflanzen quaken Frösche. Der schlanke Mann mit dem sonnengegerbten Gesicht zeigt auf eine schmale Strasse, die an seinen Reisfeldern vorbeiführt. Dort soll, sobald der Damm gebaut ist, die neue Hauptstrasse verlaufen. Ein Teil seiner Felder sei bereits auf dem Papier enteignet, sagt er. Trotzdem baue er weiter Reis an. Der frühere Gemeindeangestellte sieht in der Enteignung einen Verstoss gegen die Verfassung, die das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück garantiere.
Der beste Lebensstil, den es gibt
Allen Rückschlägen zum Trotz versuchen die Bewohner von Kobaru positiv zu bleiben. Dass infolge ihres Protestes bis heute nicht einmal das Fundament des Dammes steht, macht ihnen Mut. Tatsächlich gibt es in Japan eine Vielzahl von Grossprojekten, vom Damm bis zum Atomkraftwerk, die durch den Widerstand der Bürger verhindert wurden. Der Arase-Damm wurde gar als einziger in Japan nach seiner Fertigstellung wieder Schritt für Schritt abgebaut. Dank jungen, engagierten Bewohnern wie Shinya Kawahara, die sich berufen fühlen, den Protest fortzuführen, besteht derzeit keine Gefahr, dass der Widerstand verebbt.
Die sanft und zugleich kämpferisch wirkende Iwashita verrät, wie sie es schafft durchzuhalten: Sie denke nicht weit voraus, sagt sie, nur heute, morgen, übermorgen, aber nicht weiter in die Zukunft. Zur Entspannung gehe sie Unkraut jäten. Sie betont, dass die Frauen versuchten, sich trotz dem anstrengenden
Kampf bei Laune zu halten, etwa mit leckerem Essen und indem sie viel zusammen lachen, „denn man kann nicht kämpfen, wenn man deprimiert ist“.
The remaining residents point to the brutal police operation in 1982 as the reason they lost trust in the prefectural administration. In fact, the authority itself acknowledges that the incident inflicted “deep wounds to the hearts of the residents,” and the governor at the time attempted to make amends by sending apology letters and trying to meet with Kobaru residents.
However, four kanji 面会拒否 on a sign at the door of 66 year old Isamu Ishimaru’s house are a token of the failure of those attempts of reconciliation. They read menkai kyohi or “refusal to meet,” and they refer to his deep disappointment in politicians, including the former governor, who broke his promise not to build the dam if just one person was against it.
Although Ishimaru only arrived in 1978 from the nearby Amakusa islands with his parents, he considers the little Kobaru Valley home. “This is where traditional Japanese society still remains intact,” he said. Ishimaru walked slowly on a small road leading up to his house where he lives with his wife and daughter, gazing across the light green rice fields. Dragonflies were flitting through the air. Between the rice plants one could hear frogs croak.
Ishimaru talked about his defiance while pointing to a small street skirting some of his rice fields. That would be where the new main road would to go through, he explained, as the current one would be submerged. Some of his fields were already expropriated on paper, but he continued to plant rice on them anyway. The former public servant considers the expropriation a violation of the Japanese Constitution, which guarantees the right to life, freedom and pursuit of happiness.
But there are those who have accepted the government’s plans and moved out. Over the past decades, more than 50 households have given up and left. A new housing estate for those who left the valley stands in nearby Kawatana, the village of 14,000 people of which Kobaru is a part. Although it’s only a few kilometers down the road, the emotional distance is enormous; the people who moved here from Kobaru, especially the elderly generation in their sixties, do not speak with their former neighbors anymore. Both sides feel betrayed.
While there is some support from outside the valley, it seems that most of their immediate neighbors do not feel like getting involved in the struggle. The family of Isshin Taguchi has been living in Kawatana village, downstream from the dam and therefore unaffected by the project, for over a hundred years. In fact, the unaffiliated, conservative local politician and former ministerial bureaucrat who heads up the dam construction committee argues that the dam is important as a measure to prevent floods. In the nineties, part of Kawatana was severely damaged by flooding after strong rainfall. “I am not exactly eager for the dam to be built but it is just necessary,” he says. Nagasaki Prefecture emphasizes that the Ishiki Dam would protect the area from severe floods that occur with a statistical frequency of once in a hundred years.
Despite all of the setbacks the Kobaru residents try to stay positive. What encourages them is that the authorities still have not managed to move the project visibly forward. In fact, there are many major construction projects throughout the country, from dams to nuclear power plants, which have been stalled or prevented by local resistance. There was also the local resistance to the Arase Dam in Kumamoto Prefecture that led to its being completely torn down, in the only such case in Japan. Thanks to young, dedicated residents like Shinya Kawahara, who feel called to continue the protest, there seems to be little chance of the resistance in Kobaru fading.
At the protest site, the soft spoken yet feisty Iwashita revealed how she managed to keep her balance and persevere through the exhausting fight: She did not think ahead much, she said. To relax she likes to rip out weeds in her garden. She emphasized that the women tried to keep up their good spirits by enjoying delicious food and by laughing together a lot, “because you cannot fight if you are depressed.”
Kawahara, the local born ceramic maker employee, said he suppressed thoughts about the fact that he might have to move away some day. “I will get old in Kobaru,” he stated decisively.