Japan will mehr verheiratete Frauen auf dem Arbeitsmarkt
Die japanische Verlagsangestellte Sayaka Osakabe war Mitte dreissig, als sie zum ersten Mal schwanger wurde. Es ging ihr schlecht, und im Büro war die Hölle los. Bald verlor sie das Kind. Die zweite Schwangerschaft ein halbes Jahr später lief nicht besser. Der Arzt schrieb sie krank und riet ihr dringend, sich eine Weile zu schonen. Nach einer Woche besuchte ihr Chef sie zu Hause. Ihre Abwesenheit sorge für Probleme, sagte er. Kind und Karriere, gleich beides zu wollen, sei gierig. Osakabe ging wieder arbeiten. Sie verlor das Ungeborene erneut. Da kündigte sie.
Seither ist ein Jahrzehnt vergangen. Osakabes Geschichte erschütterte damals die Öffentlichkeit, gerade weil sich so viele arbeitende Frauen darin wiedererkannten. Unter Festangestellten war laut Umfragen des japanischen Gewerkschaftsverbandes Rengo jede fünfte (werdende) Mutter von Diskriminierung betroffen, unter Zeitarbeitskräften jede vierte. Auch heute ist Japan nicht gerade als Land der Gleichstellung bekannt. Im Gender-Gap-Ranking des Weltwirtschaftsforums vom Juni fiel Japan um neun Plätze auf Rang 125 von 146 Ländern – ein Negativrekord und der niedrigste Rang in der Region Asien-Pazifik. Während Japan beim Zugang zum Gesundheitswesen und in der Bildung gut abschneidet, schubst die grosse Gehaltslücke Japan in der Wirtschaft auf Platz 123.
Wenig Chefinnen
Ministerpräsident Fumio Kishida versucht gegenzusteuern: Seit 1. August müssen zum Beispiel Firmen mit über 300 Angestellten geschlechterspezifische Unterschiede bei der Bezahlung offenlegen. Im April erklärte Kishida, 30 Prozent der Führungsposten in grossen Unternehmen bis 2030 mit Frauen besetzen zu wollen. Dasselbe Ziel hatte der langjährige Regierungschef Shinzo Abe allerdings schon bis 2020 erreichen wollen. Doch trotz Schlagwörtern wie „womenomics“, die der Frauenförderung immerhin mehr Aufmerksamkeit bescherten, kam Japan nicht einmal auf die Hälfte. Abes Nachfolger Yoshihide Suga verschob die Ziellinie auf „möglichst bald in den 2020ern“. Nun versucht sich Kishida daran.
Die Anreize, Frauen stärker ins Berufsleben zu integrieren, steigen. Japan überaltert und schrumpft im Rekordtempo. Im Juli veröffentlichte Zahlen des Innenministeriums belegen: Japanische Staatsbürger machten 2022 nur noch 122,4 Millionen aus, über eine halbe Million weniger als im Vorjahr. Besserung ist nicht in Sicht: Seit Jahren sinkt die Geburtenrate. Laut Prognosen dürften im Jahr 2070 nur noch 87 Millionen Menschen in Japan leben. Der Ausgleich durch mehr Einwanderung kommt für die Inselnation nur innerhalb strikter Grenzen infrage – ausgewählte Branchen, beschränkte Aufenthaltsdauer, strikte Prüfungen.
Lieber setzt Japans Regierung auf Frauen. Schieden noch vor 15 Jahren rund 70 Prozent der Japanerinnen mit der Heirat oder dem ersten Kind aus dem Arbeitsmarkt aus, ist die Frauenerwerbstätigkeit dank Massnahmen wie mehr Kinderbetreuung und Karriereförderung von 64 Prozent (2010) auf 74 Prozent (2021) gestiegen, wie Daten der Weltbank zeigen.
Doch in den Chefetagen bleiben Frauen mit nur 8 Prozent bei Firmen mit mehr als 5000 Angestellten rar. Bei kleinen und mittleren Unternehmen sind es immerhin 21 Prozent. Während Männer fast automatisch auf die Karrierelaufbahn gesetzt werden, bleibt für Frauen häufig nur der Pfad von Zuarbeit, Zeitarbeit oder Teilzeit. Dieser hat durchaus Vorteile: weniger Überstunden, weniger durchzechte Nächte mit Kunden und Kollegen und keine Gefahr, alle paar Jahre an einen anderen Standort versetzt zu werden.
Die Nachteile zeigen sich in Form fehlender Aufstiegschancen sowie auf dem Gehaltszettel: Japanerinnen verdienen laut der Beratungsfirma Willis Towers, die die Bilanzen von 2000 Unternehmen im Juli analysiert hat, im Durchschnitt nur rund 67 Prozent der Saläre der Männer.
Väter an Auszeit interessiert
Etwas hat sich zumindest gebessert: Über die Diskriminierung von Frauen und Müttern am Arbeitsplatz zu sprechen, ist kein Tabu mehr. Damals habe sie sich sehr allein gefühlt, sagt Osakabe im Gespräch. Heute ist der Ausdruck „mata hara“, die Kurzform von „maternity harassment“, in den japanischen Sprachschatz eingegangen. 2014 gründete Osakabe die Hilfsorganisation Matahara Net. 2015 erhielt sie dafür als eine von wenigen Preisträgerinnen aus einem Nichtentwicklungsland den „International Women of Courage Award“ vom amerikanischen Aussenministerium.
Dieser Druck von aussen half: Zwei Jahre später erliess Japan ein Antidiskriminierungsgesetz. Die neue Chefin von Matahara Net, Naoko Sasaki, schreibt, dass die Hilfsgesuche seither zurückgegangen seien. Generell sei das Bewusstsein bei Firmen, dass sie gegen das Gesetz verstossen würden, gestiegen – ebenso die Angst vor einem Shitstorm in sozialen Netzwerken. Und angesichts des Arbeitskräftemangels erkennen immer mehr Unternehmen, dass sie sich schlechte Publicity nicht leisten können.
Mitte der achtziger Jahre lautete ein populärer Spruch: „Ein guter Ehemann ist gesund und nicht zu Hause.“ Daran hat sich bis heute wenig geändert – ausser, dass sich weniger Familien nach drei Dekaden Deflation erlauben können, dass eine Frau wie zur Zeit des Wirtschaftswunders „sengyo shufu“ (Berufshausfrau) ist. Auch das japanische Erziehungsideal der sich aufopfernden Mutter, die vor allem in den ersten drei Lebensjahren das Kind prägt und daher (beruflich) zurückstecken muss, besteht weiter.
Viele Frauen fühlten sich eingequetscht zwischen Kindererziehung, Arbeit und Pflege alternder Familienmitglieder, sagt Osakabe. Und die wenigsten Ehemänner sind so engagiert wie ihr Partner, der bei einer Consultingfirma arbeitet: Während sie das Kochen übernimmt, macht er die Wäsche und den Abwasch. Auch hier besteht für Japan noch Potenzial, die Weichen zu stellen. Denn neben der Höhe des Haushaltseinkommens spielt die Unterstützung durch den Ehepartner bei der Entscheidung für oder gegen Kinder und für oder gegen Karriere eine wichtige Rolle.
Ein Umdenken findet bereits statt. So ist es für japanische Männer einfacher geworden, Erziehungsurlaub zu nehmen. Wurde noch vor wenigen Jahren jeder Mann bejubelt, der eine Woche freinahm, geht nun der Trend zu einem Monat und länger. Laut neusten Daten nahmen jüngst 17 Prozent der Väter nach der Geburt eine Auszeit – allerdings wird schon mitgezählt, wer auch nur einen einzigen Tag für sein Neugeborenes freinimmt.
„Was soll das mit den Kindern?“
Dass Japan angesichts der sichtbaren Fortschritte im Gender-Gap-Report so abgestürzt ist, liegt auch daran, dass sich die Lage in anderen Ländern viel schneller verbessert hat. Gerade in der japanischen Politik besteht für Frauen noch viel Luft nach oben: Mit Rang 138 zählt Japan weltweit zu den Schlusslichtern. Nur jede zehnte Person in Parlamenten ist weiblich, Ministerinnen gibt es noch weniger. Ein Foto vom G-7-Ministertreffen zum Thema Gender im Juni brachte Japan Spott ein – als einziges G-7-Land hatte es einen Mann in das Amt berufen.
Osakabe, die inzwischen selbst in die Politik eingestiegen ist, kann davon ein Lied singen: „Japans grösstes Problem sind die vielen alten Männer überall, die an ihren Posten festkleben „, sagt sie. Symptomatisch für den Mangel an Verständnis gegenüber Frauen und Müttern in der Politik war die Reaktion auf Osakabes Wahlplakat, mit dem sie sich 2019 erstmals für ein politisches Amt bewarb. „Was soll das mit den Kindern?“, sei sie gefragt worden. Ihr Plakat zeigte zwei kleine Kinder, die sie umarmten. Es waren ihre eigenen, damals unter einem und zwei Jahre alt. Die heute 46-Jährige sitzt seit dem Frühjahr im Bezirksparlament von Aoba in der Millionenstadt Yokohama. Dort ist sie die einzige „Mama-Abgeordnete“. Sie hoffe nun, durch ihre politische Arbeit trotz zwei kleinen Kindern für andere Frauen als Vorbild zu wirken.