日本在住ジャーナリスト、撮影コーディネーター、ドキュメンタリー映画監督
Die kleine Keksmanufaktur „Kumi Tokusan“ in Shimane © Sonja Blaschke
Die kleine Keksmanufaktur "Kumi Tokusan" in Shimane © Sonja Blaschke

In Japan sterben ganze Dörfer aus

Überalterung, Entvölkerung, weniger Kinder – Nippon ist davon so stark betroffen wie kaum eine andere Industrienation. Die drittgrößte Volkswirtschaft wird als unfreiwilliger Vorreiter eines Trends gesehen, der auch Deutschland erfassen wird.

Zwei junge Männer in Motorradjacken und Jeans schlendern unter dem großen Torii, dem traditionellen Tor am Eingang eines ShintoSchreins, hindurch. Gerade haben sie am Izumo Taisha, einem der wichtigsten Schreine Japans – für die Beziehungsanbahnung – zu den Göttern gebetet und Glücksbringer gekauft. Denn Masanori Oka will eine Freundin finden. Eine feste Vorstellung habe er nicht von seiner Zukünftigen, sagt der 26-Jährige. Er wünsche sich einfach eine Partnerin fürs Leben. Sein Kumpel Takahiro Kawakami ist bereits vergeben. Er betete dafür, dass die Beziehung zu seiner Liebsten hält und später in die Ehe münden wird. Junge Japaner sind ganz versessen darauf zu heiraten und eine Familie zu gründen, könnte man nun denken.

Doch die offiziellen Zahlen sprechen eine andere Sprache. Seit Jahren heiraten immer weniger Paare; einer neuen Studie zufolge will ein Viertel aller Japaner nie das Jawort sprechen. Der Hauptgrund ist bei den meisten ein Mangel an Perspektive. Gut bezahlte Festanstellungen werden immer rarer, und von einem Zeitarbeitsjob allein lässt sich kaum eine Familie ernähren. Allerdings suchen die meisten jungen Frauen, egal wie gut sie selbst ausgebildet sind, weiter nach dem potenziellen Alleinernährer als Ehepartner. Da in Japan 98 Prozent der Kinder in der Ehe geboren werden, fehlt auch der Nachwuchs. Selbst wenn zuletzt die durchschnittliche Geburtenrate pro Frau leicht gestiegen ist, könnte 2015 das Jahr werden, indem in Japan die Zahl der geborenen Babys erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg unter einer Million liegt. Unterdessen steigt der Anteil der über 65-Jährigen an der Bevölkerung. Weil 2014 mehr Menschen starben als geboren wurden, schrumpfte das Land im vergangenen Jahr um 270 000 Menschen, also um die Größe einer Stadt wie Augsburg.

Japan ist unfreiwilliger Vorreiter eines demografischen Trends, der auch andere Industrienationen erfasst: eine Kombination aus Überalterung und weniger Kindern. In Japan wie in Deutschland bringt eine Frau durchschnittlich 1,4 Kinder zur Welt. Damit Japan seine jetzige Bevölkerung von 127 Millionen Menschen halten kann, müsste diese Zahl aber bei zwei liegen. Anders als Deutschland will die Inselnation jedoch nicht auf Einwanderer setzen, um den Bevölkerungsschwund abzufedern.

Besonders extrem ist die Situation in der japanischen Provinz. Wer nicht in der Landwirtschaft, der Fischerei oder im Tourismus arbeiten will, dem bleibt kaum etwas anderes übrig, als in die Ballungsräume zu ziehen. „Nur in Tokio gibt es die guten Universitäten und großen Firmen“, sagt der 20jährige Politikstudent Narukiyo Sasaki. Er könne es sich wie viele seiner Altersgenossen nicht vorstellen, einmal auf dem Land zu wohnen. Durch die Abwanderung der jungen Leute bleiben vielerorts nur Senioren zurück. Das hat nicht nur Auswirkungen auf das tägliche Leben, sondern auch auf die Überlebensfähigkeit eines Ortes. „Je weniger Frauen im gebärfähigen Alter an einem Ort wohnen, desto größer ist das Risiko, dass er in den nächsten Jahrzehnten verschwindet“, warnt der frühere Innenminister Hiroya Masuda, der nun Berater eines Thinktanks ist. Er sieht die Hälfte aller Gemeinden in Japan bedroht.

In manchen Präfekturen, die von den großen Verkehrsadern weit entfernt sind und nur wenig Industrie aufweisen, drohen sogar mehr als 80 oder gar 90 Prozent der Gemeinden zu verschwinden. Dazu gehört auch Shimane in Westjapan. „Wir erleben hier jetzt, was der Rest des Landes in zehn Jahren erleben wird“, sagt Satoru Aoki von der Präfekturverwaltung. „Wir können ohnehin nicht wirklich etwas gegen den Bevölkerungsschwund tun, also versuchen wir uns so gut wie möglich anzupassen.“ Aoki ist zuständig für die Bergregionen, die 87 Prozent der Präfektur ausmachen, und an der Einrichtung eines neuen Systems von Knotenpunkten beteiligt. Dort werden Funktionen und Dienstleistungen zusammengezogen, zum Beispiel die ärztliche Versorgung oder die Pflege alter Menschen. Die Knotenpunkte sollen für alle Bewohner in maximal 30 Autominuten erreichbar sein.

In der nordjapanischen Präfektur Akita könnten bis 2040 alle Gemeinden verschwinden – bis auf eine: das Dorf Ogatamura, das Anfang der 60er Jahre auf einem zugeschütteten See gegründet wurde. Da die örtliche Landwirtschaft aus relativ großen Höfen besteht, gibt es einen hohen Bedarf an Verwaltungsarbeiten im Büro, die häufig junge Frauen übernehmen. Sie machen 15,2 Prozent der Dorfbevölkerung aus. 3200 Einwohner leben in Ogatamura, Tendenz steigend. Und der Staat tut sein Bestes, um die Geburtenrate zu erhöhen. In Akita gibt es eine Eheanbahnungsstelle, die eine Datenbank für Heiratswillige führt. Sie lädt auch zu gemeinsamen Aktivitäten wie Kochkursen oder Ausflügen ein – alles in der Hoffnung, dass sich das später einmal positiv in der Bevölkerungsstatistik niederschlägt.

In der zentraljapanischen Stadt Toyama versucht man dagegen, sich an den Status quo anzupassen: die dramatisch steigende Seniorenzahl. War Toyama früher eine Stadt, in der ohne Auto nichts ging, hat sie inzwischen ihren öffentlichen Nahverkehr massiv ausgebaut. Randsiedlungen werden schrittweise abgebaut; die Stadt soll kompakter werden. Toyama richtete zudem das erste nationale Präventionszentrum ein, eine Mischung aus Fitness und Rehabilitationszentrum und Klinik. Toyama soll „die rentnerfreundlichste Stadt Japans“ werden, sagt Bürgermeister Masashi Mori.

Stärker als Deutschland hat Japan ein Umverteilungsproblem. Alles ist auf Tokio ausgerichtet, wo ein Viertel der Bevölkerung lebt, Tendenz steigend. Während es in Zukunft auf dem Land zu viele Betreuungseinrichtungen für Kinder wie alte Leute geben wird, werden es in Tokio zu wenige sein. Auch das wirkt sich negativ auf die Bevölkerungsstatistik aus. Denn in einem Land, das junge Frauen vor die Wahl zwischen Kindern oder Karriere stellt, verzichten viele mangels sozialpolitischer Unterstützung gleich ganz auf Mann und Kinder. Da sind selbst den mächtigen Göttern des Izumo Taisha die Hände gebunden.

Zur Familiengründung auf die Insel

Weitab vom Festland hat es eine ländliche Gegend geschafft, dass sich dort wieder mehr junge Leute ansiedeln.

Die japanischen Oki-Inseln im Westen Japans sind berühmt für 24-stündige Sumo-Turniere, Curry mit Turbanschnecken und die schöne Natur. Außerdem finden dort traditionelle Stierkämpfe statt, bei denen sich zwei Bullen messen. Nichts davon reizte Mina Yamamoto, als sie vor neun Jahren eine Fähre bestieg, um die drei Stunden von der Hauptinsel gelegene Inselgruppe zu erreichen. Und sie ist dort geblieben – „unter Tränen eingefangen“, sagt sie und lacht. Ein junger Mann in der lokalen Verwaltung sei dafür verantwortlich. Er wurde der Vater ihrer Kinder und die 243 Quadratkilometer kleine Insel Dogo ihre neue Heimat.

Yamamoto zählt zur wachsenden Gruppe junger Leute auf den Oki-Inseln, die der Bevölkerungsstatistik den lang erhofften Trend nach oben geben. Denn wie viele ländliche Gegenden kennt man dort das Gefühl, wenn nach und nach die Schulen verkleinert, zusammengelegt und schließlich geschlossen werden, wenn immer mehr Firmen ihr Geschäft reduzieren und irgendwann aufgeben müssen, wenn immer mehr junge Leute mangels Zukunftsperspektive wegziehen. Doch dank einiger privater wie staatlicher Initiativen stehen die Oki-Inseln, auf denen 15 000 Menschen leben, inzwischen für einen positiven Gegentrend.

In den vergangenen zehn Jahren zogen rund 300 Menschen zwischen 20 und 40 auf die Insel. Die einen besuchten ursprünglich nur Freunde – kamen dann immer wieder und blieben irgendwann ganz. Andere wurden angelockt von überdurchschnittlich gut ausgestatteten Schulen sowie kleinen, aber erfolgreichen Firmen. Wieder andere lockte die schöne Natur: Sie arbeiten als Kajaklehrer oder Naturführer. Unter ihnen sind auch einige Rückkehrer, die auf der Insel geboren wurden, zur Ausbildung weggingen und später wiederkamen. Das nennt man auf Neujapanisch „U-Turn“, angelehnt an ihre Bewegung in U-Form vom Land in die Stadt und wieder zurück. Yamamoto fällt jedoch in die Kategorie „I-Turn“, von der Form des Buchstabens „I“, der für ihre direkte Bewegung von der Millionenstadt Kobe aufs Land steht. „Turn“ bedeutet „Wende“ und steht nicht nur für den Ortswechsel, sondern auch für den dadurch bedingten neuen Lebensstil. Die meisten, die per „I-Turn“ nach Oki kommen, wechseln von einem Bürojob in der Stadt zu Tätigkeiten in der Landwirtschaft oder der Fischerei oder arbeiten im Tourismus.

Yamamoto wurde Keksbäckerin in Teilzeit. Eine andere Wahl hatte sie nicht; es gab keinen anderen Job. Einige Frauen aus dem Ort haben 1996 die Keksmanufaktur „Kumi Tokusan“ in einer ehemaligen Grundschule aufgebaut. Dort backt Yamamoto seit neun Jahren Cracker aus Reis und Buchweizenmehl, Krabben und Tintenfisch. Inzwischen ist sie froh über ihre Arbeit und stolz auf den Erfolg ihrer Produkte. Gingen sie und ihre Kolleginnen anfangs von Haus zu Haus, werden ihre Kekse nun sogar als Souvenir an lokalen Flughäfen und sogar in Tokio verkauft. Yamamoto mag ihre Arbeit und schätzt die zeitliche Flexibilität sowie das Verständnis ihrer Kolleginnen: „Wenn eines meiner Kinder krank wird, kann ich auch recht kurzfristig absagen.“

Die junge Frau hat sich an das ruhige Leben auf der Insel gewöhnt. An einem Wintertag kann man schon mal kilometerweit fahren, ohne einem anderen Auto zu begegnen oder irgendeine Menschenseele draußen zu sehen. Allzu viel Einsamkeit ist aber auch nicht gut: Yamamoto wünschte sich, dass es ein paar mehr Möglichkeiten gäbe, die anderen jungen Bewohner der Insel etwas besser kennenlernen. Zwar organisiere die Gemeinde solche Treffen, aber nur einmal im Jahr. Das ist steigerungsfähig.

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