Was bleibt
Es sieht so leicht aus. Das Grünteepulver in eine Schale geben, nicht zu heißes Wasser daraufgießen und mit einem rasierpinselartigen Bambusbesen schaumig schlagen. „Aber bei Anfängern wird der Tee oft bitter“, erklärt Naoko Ooshima dem deutschen Gast. Doch was die japanische Teemeisterin da zaubert, ist leicht, mild und sehr lecker.
Sie reicht die erste Glasschale an die 82-jährige Richi Takahama. Auf den Knien sitzend verbeugt sich diese dankend und dreht die Teeschale in der Hand, bevor sie sie zum Mund führt. Dabei bewundert sie das Muster der Schale und dreht es dann von sich weg hin zu Gott, so die Vorstellung.
Wo sonst zum Tee feines japanisches Zuckergebäck serviert wird, behilft sich Ooshima mit der türkischen Spezialität Lokum. Das heiße Wasser schöpft sie nicht mit einer Bambuskelle aus einem gusseisernen Gefäß, sondern gießt es aus einer Thermoskanne in die Glasschalen. Sie trägt keinen prächtigen Kimono, sondern ein einfaches graues Kleid. Die Teeschalen stellt sie nicht auf Bambusmatten vor den Gästen ab, sondern auf dem farblosen Linoleumboden eines Klassenzimmers der Grund- und Mittelschule. Hier befindet sich eines der Evakuierungslager von Kesennuma in der japanischen Präfektur Miyagi.
Gastgeberin und Gäste teilen dasselbe Schicksal
Naoko Ooshima ist seit dem 11. März 2011 heimatlos. Ebenso ihre Gäste, die Familie Tamura mit Großmutter Richi Takahama und weitere neun Bewohner des 35 Quadratmeter großen Raumes. Das Jahrhundertbeben der Stärke 9,0 hatte eine halbe Stunde später einen zehn Meter hohen Tsunami nach Kesennuma geschickt, der ein Drittel der 75 000-Einwohner-Stadt überschwemmte. In Brand geratene Öltanks und Schneefälle in der eisigen Märznacht taten das ihre. Mitte Juni galten knapp 1000 Einwohner als tot, mehr als 500 als vermisst, rund 10 500 Häuser und 9500 Familien sind betroffen.
In ganz Japan harren mehr als drei Monate nach dem Tsunami und dem Nuklearunfall von Fukushima noch 90 000 Menschen in Notunter künften aus. Es ist ein emotionales Auf und Ab. Manche treibt der Wille an, ihre Heimat wiederaufzubauen. Andere sind resigniert und unzufrieden mit den Behörden.
Mit Naturkatastrophen könnten Betroffene besser umgehen als mit menschengemachten, sagen Psychologen. Besonders schlecht stehe es daher um die Menschen, die wegen der Strahlengefahr ihre Heimat verlassen mussten und nicht wissen, ob sie je wieder zurückkönnen; die Suizidgefahr steige, so die Regierung. Der Fall eines 102-Jährigen, der sich nach der Evakuierungsankündigung im besonders vom radioaktiven Niederschlag betroffenen Dorf Iitate aufhängte, ging durch die Presse.
Zwar stresst viele das Leben ohne Privatsphäre in den Lagern, doch gleichzeitig unterstützen sie sich gegenseitig. Wie die Teemeisterin Ooshima, die aus Dankbarkeit ihre Kunst weitergibt. „Etwas anderes habe ich ja nicht“, sagt sie. Ein Bild von ihr darf nicht veröffentlicht werden. Es ist der Meisterin peinlich, das Ritual ohne die vorgeschriebenen Utensilien durchführen zu müssen. Der überraschten deutschen Journalistin drückt die evakuierte Familie Tamura noch Süßigkeiten für die Rückfahrt nach Tokio in die Hand – Gegenwehr zwecklos.
Ihre Geschichten hallen auf der Zugfahrt nach, zum Beispiel die von Mutter Junko Tamura, die um ihren 84-jährigen Vater trauert. Während sie auf eine 50 Meter entfernte Anhöhe fliehen konnte, erfasste ihn die Welle. „Er war noch fit für sein Alter und konnte sich an brennenden Trümmern vorbeischwimmend auf ein Dach retten.“ Von dort aus habe er noch anderen geholfen. Doch völlig durchnässt überlebte er die Winterkälte nicht. Es nagt an der 54-Jährigen, dass sie erst Tage später auf Schuttbergen seine Leiche bergen konnte.
Viele Menschen gedachten am 11. Juni 2011 ihrer Verstorbenen, legten Blumen am Wasser ab oder gingen zum Tempel, wie Junko Tamuras Ehemann Hirayuki. Er hatte damals seine 93-jährige gehbehinderte Mutter zu Feuerwehrleuten in den Einsatzwagen gesetzt und war zu Fuß geflohen. Der 64-Jährige schaffte es – die Feuerwehr nicht.
Nach dem Beben blieben kaum zehn Minuten Zeit zur Flucht
Seine Frau Junko erklärt: „Das Beben dauerte fünf Minuten. Bis wir uns vom Schreck erholt hatten, vergingen noch einmal fünf. Dann der Gedanke an einen Tsunami, die Suche nach Wertsachen … Vielen blieben keine zehn Minuten, um sich auf hohe, stabile Gebäude oder höher gelegene Gebiete zu retten.“ Andere vertrauten zu sehr auf Milliarden Euro teure Tsunami-Schutz-mauern wie die in Kamaishi, die sogar im Guinness-Buch der Rekorde stehen. Ihre nutzlosen Trümmer ragen stellenweise noch aus dem Meer. Warnungen per Lautsprecher habe Junko Tamura nur kurz gehört und kaum verstanden; bald fiel der Strom aus. Videos auf YouTube zeigen, wie die schwarze Brühe in wenigen Minuten bis unter die Decke des ersten Stocks schwappte. Autos, Schiffe und ganze Häuser schwammen vorbei.
Einen solchen Albtraum hatte Junkos Mutter Richi Takahama schon einmal als Vierjährige beim Showa-Sanriku-Tsunami erlebt. Am 3. März 1933 wurde Taro, der damalige Wohnort der Familie, fast vollständig ausgelöscht. Das Tückische: Da das Epizentrum über 200 Kilometer von der Küste entfernt war, richtete das nächtliche Beben kaum Schaden an, viele Menschen wähnten sich in Sicherheit. Während ihre Eltern damals sorglos im Bett liegen blieben, floh ihre zwölf Jahre ältere Schwester mit der kleinen Richi die Küste hinauf. „Dort gab sie mir Reisbrei zu essen“, erinnert sich die 82-Jährige, und dass das Wasser bis in den Eingang des Hauses floss.
Wegen dieser Erfahrung trat die alte Frau 78 Jahre später, am 11. März 2011, als eine der Ersten die Flucht an. Es war keine Sekunde zu früh. „Als ich auf der Anhöhe ankam, sah ich, wie hinter mir die Welle die Stadt zermalmte“, erzählt die alte Dame.
Sie war es, die spontan auf die Idee kam, die deutsche Journalistin, die gerade vor dem Evakuierungslager stand, zur Teezeremonie einzuladen. Sie wollte ihrer 25-jährigen Enkelin Kano Tamura etwas Gutes tun, die an der Universität deutsche Märchen studiert hatte, schon auf Kurzbesuch in Köln war, und sagt: „Ich kann mir gut vorstellen, auch einmal in Deutschland zu leben.“
Kano Tamura arbeitete zum Zeitpunkt des Bebens in einem Gemeindehaus in den Hügeln über der Stadt. Weil ihre Mutter auf einer Webseite ihres Mobilfunkanbieters eine Nachricht hinterlassen hatte, fand sie sie am nächsten Tag wieder. Während Telefonate noch Tage später unmöglich waren, funktionierte das Internet in Orten mit Stromversorgung gut, der Maildienst per Handy verzögert.
Hat Kano nun Angst vor dem Meer, will sie woanders wohnen? „Nein, ich möchte wieder an die gleiche Stelle ziehen.“ Derzeit steht dort ein anderes Haus; die Welle hat es dort abgestellt. Andere wiederum finden keine Ruhe mehr am Meer. Machiko Kikuchi aus der Stadt Kamaishi in der Nachbarpräfektur Iwate wohnte keine 50 Meter Luftlinie vom Wasser entfernt. Ihr Haus wurde weggeschwemmt, mit ihrem 18-jährigen Sohn auf dem Dach. Er überlebte wie durch ein Wunder.
Die Welle zog ganze Dörfer hinab auf den Meeresgrund
Auch die Tamuras, die berufsbedingt mehrfach umzogen sind, haben einmal in Kamaishi gewohnt, ebenso in den nun stark zerstörten Orten Miyako und Ofunato. Mit einem von Verwandten geschenkten Auto fuhren sie kürzlich nach Rikuzentakata, wo sich der Tsunami durch ein Flusstal fast zehn Kilometer ins Landesinnere gefressen hat. „Dort ist nichts mehr. Mir liefen die Tränen herunter, ich konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen“, sagt Vater Tamura fünf oder sechs Mal im Gespräch. Der Sog der Welle aufs Meer hinaus muss extrem stark gewesen sein, denn Taucherfanden ganze Dörfer unter Wasser, berichteten japanische Medien.
Die Aufräumarbeiten gehen unterschiedlich schnell voran, sagen die Tamuras. In der Ebene zwischen Sendai und Natori, wo die Wellen bis zu sechs Kilometer weit ins Landesinnere vorstießen, sieht man Fortschritte, der Flughafen von Sendai ist wieder einsatzfähig. In Kamaishi wurden die meisten Häuser bereits inspiziert und markiert.Rote Flagge heißt abreißen, gelbe renovieren.
„So weit sind wir in Kesennuma noch lange nicht“, sagt Kano. Ein kurzer Rundumblick bestätigt das: Meterhohe Schuttberge auf mehreren Quadratkilometern, großeFischtrawler an Häuserruinen gedrückt, zerbeulte Öltanks im Hafenbecken, ein ausgebranntes Schiffswrack am Pier. Freiwillige schaufeln Schlamm aus den Häusern und kümmern sich um die Evakuierten. „Eine der Helferinnen hier war übrigens eine Japanerin, die als Masseurin in Augsburg lebt“, erzählt Kano.
Die Angst vor Strahlung steht nicht an erster Stelle
Von den sich überschlagenden Nachrichten aus dem Atomkraftwerk in Fukushima hörten die meisten direkt Betroffenen in Nordostjapan erst spät. Das Ehepaar Takezawa aus Sendai erfuhr zwar kurz danach per Handy-Mail von Freunden aus Osaka von dem Reaktorunfall. Doch mit vier vermissten Familienmitgliedern hatten sie andere Sorgen. Ebenso Familie Sugimoto aus der Stadt Ishinomaki, die erst zwei Wochen später informiert war. Sie hatten Haus und Hund verloren. Sorgen wegen der Strahlung machen sie sich kaum: „Es klingt vielleicht komisch, aber das AKW ist ja in der Nachbarpräfektur. “ Beide Familien wohnen rund 100 Kilometer vom Unglücksreaktor entfernt.
Familie Tamura lebt 170 Kilometer davon weg. „Wir haben einen Monat lang bei Kerzenschein verbracht, ohne Strom, und haben erst spät von der Reaktorkatastrophe erfahren“, erklärt die Mutter. Auch wenn die örtliche Verwaltung gerade die Wiederaufnahme des BonitoFangs vorbereitet – Lust auf Fisch habe ihre Familie nicht mehr: „Eine mögliche radioaktive Belastung der Fische macht mir weniger Sorgen als die Tatsache, dass wohl die Leichen vieler Vermisster noch im Meer liegen .“ Und dass diese womöglich in die Nahrungskette der Fische gelangt sind.
Hoffnung in der schlimmen Lage geben die Kinder: Zwar sind sie oft sehr ängstlich, wenn tägliche Nachbeben die Häuser schütteln. Doch im Spiel mit anderen Kindern fällt es ihnen vielleicht leichter als Erwachsenen, die schlimmen Erlebnisse auszublenden. Auf dem Sportplatz der Grund- und Mittelschule spielen Erzieher mit ihnen ein Quiz à la „Eins, zwei oder drei“. Zwischen den Zelten in der Turnhalle springen Grundschülerinnen herum und kleben auf ihre Kleidung kreative Kostüme aus Zeitungspapier.
Neugierig sind die japanischen Kids wie andere Kinder auf der Welt auch: „Woher kommst du? Bist du auch ein Opfer?“, fragt ein etwa Zehnjähriger. Und: „Bist du mit einem Mann aus Kesennuma verheiratet?“
Wie lange müssen die Tamuras noch in dem Klassenzimmer bleiben, Dixie-Klos benutzen, zu fixen Zeiten in einem Armeezelt baden? Eine Frage, auf die es keine klare Antwort gibt. Die einen wollen zurück ans Meer, die anderen in möglichst hoch gelegene Gebiete. Der Stadtangestellte Noriaki Sumawara berichtet, dass für 40 Prozent der Übergangshäuser noch nicht einmal Baugrund da ist. „Das dauert noch Monate, bis eine Entscheidung fällt und viele Jahre bis zur Wiederherstellung der Region.“ Zur moralischen Unterstützung hängen überall Poster und Aufkleber mit der japanischen Lieblingsdurchhalteparole, die auch die drei Jizo-Statuen (Barmherzigkeitsgötter) in der Präfektur Miyagi in der Hand halten: „Gambarou, Miyagi – halten wir durch, Miyagi!“