„Vor mir die Sintflut“
Eisgrau ist der Ozean, und Takeshi Yamamoto kehrt ihm den Rücken zu. Wie ein Krieger vor der Schlacht kauert der Surflehrer im weißen Sand von Onjuku, sein dunkelblauer Neoprenanzug sitzt wie eine zweite, dicke Haut. „Ihr müsst euch der Wellen bewusst sein. Nutzt ihre Kraft!“, schärft er den Schülern ein, die sich im Halbkreis um ihn versammelt haben, manche im Schneidersitz, manche in der Hocke. „Wenn ihr versucht, euer eigenes Ding durchzuziehen, wird es nur schwerer.“
Fast jedes Wochenende fährt der 52-Jährige mit einer Handvoll Surfschülern die Ostküste der japanischen Provinz Chiba ab. Nach einer guten Stunde Fahrt hat er heute die richtige Stelle für den Unterricht gefunden: Entlang der Uferstraße von Onjuku, gut 110 Kilometer von Tokio, steht ein Minivan am nächsten. Parkplätze sind rar, wie jedes Wochenende, wenn gute Wellen hereinkommen. Bei maximal zehn Grad Außentemperatur sitzen bereits Hunderte Surfer im kalten Wasser auf ihren Brettern und warten auf den nächsten Ritt.
Alles scheint wie immer, so wie vor dem 11. März 2011 – jenem Tag, der für Japan alles veränderte.
Damals war es, als hätte sich ein Gigant in den Ozean gesetzt: Wie eine überlaufende Badewanne ergoss sich der Pazifik mit ungeheurem Schwall über 400 Küstenkilometer, schob Häuser und Autos kilometerweit ins Landesinnere und radierte ganze Städte aus. Zuvor hatte sich ein gewaltiges Seebeben ereignet, so verheerend wie noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen. Je nach Nähe zum Epizentrum trafen die ersten Wasserwände eine halbe Stunde später auf die Küste. 15 848 Menschen starben damals, 3305 gelten noch immer als vermisst. Und als hätten sich alle höheren Mächte gegen Japan verschworen, führten Beben und Tsunami im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi zur schlimmsten Nuklearkatastrophe seit Tschernobyl.
Seither sucht in Japan ein ganzes Volk nach Normalität. Und so wie die Menschen in ihre zerstörten Städte zurückkehren und die Schuttberge abtragen, so wie sie lernen, mit dem radioaktiven Erbe von Fukushima zu leben, so versuchen auch die Wellenreiter an der Tsunamiküste, ein Trauma zu bewältigen. Die Surfer kehren zurück in den Ozean, der so viel Unglück über ihr Land gebracht hat, der Städte planiert und Tausende Menschen getötet hat. Es ist dasselbe Meer, das in zahllosen Youtube-Katastrophenclips zu sehen ist: schwarze, ungezähmte Fluten, eine reißende, tödliche Riesenwelle.
Yamamoto war einer der Ersten damals, die sich dieses Meer zurückerobert haben. „Beim Surfen kannst du den Herzschlag der Natur spüren“, sagt er, und bei ihm klingt es nicht wie eine Phrase. „Sie kann wunderschön sein, aber auch schrecklich.“
Geradezu surreal wirkt der Gedanke an diese Zerstörungskraft angesichts der vollgestellten Parkplätze in Chiba, wo sich Wellenreiter mit Funktionsunterwäsche in ihre Wetsuits zwängen, wo sie Surfbretter wachsen und ihre Gesichter dick mit Sonnencreme einschmieren. Diejenigen, die nach Stunden in den Wellen erschöpft und durchgefroren zum Wagen zurücktapsen, gießen sich gegenseitig heißes Wasser aus mitgebrachten Plastikbottichen über die Köpfe. Gerade mal 13 Grad hat der Ozean heute.
An jenem Tag, den die Japaner „3.11“ nennen, waren nur wenige Wellenreiter im Wasser. Es passierte an einem Freitagnachmittag – und die meisten japanischen Surfer gehen unter der Woche einem normalen Job nach. Yamamoto weiß von einem seiner neun Angestellten, der noch bis zum Mittag im Wasser war. Danach seien ihm die Wellen zu stark geworden.
Yamamoto selbst war am 11. März 2011 gerade in Hawaii, gemeinsam mit seiner Familie und 15 Schülern. Eigentlich sollte an diesem Tag ihr Flieger zurückgehen – doch es kamen keine Flugzeuge mehr aus Japan. „Ich habe sicher hundertmal angerufen, aber die Leitungen waren zusammengebrochen“, erzählt Yamamoto. „Ich habe meine Mitarbeiter erst zwei Tage später erreicht.“ Übers Internet fand er schließlich heraus, dass zumindest an der Küste vor seinem Surfladen in Ichinomiya nichts Schlimmeres passiert war; das Wasser kam nur bis knapp unter den höchsten Punkt der Schutzwälle. Drei Tage später flog er nach Japan. „Zum Glück hatte ich meine Frau und meine Töchter bei mir“, sagt Yamamoto.
Das ganze Land stand damals still: Fabriken bekamen keinen Nachschub mehr, die gesamte Wirtschaft brach ein. Auch Yamamoto ist Unternehmer, neben seinen zwei Läden für Surfzubehör betreibt er einen Großhandel. Nach dem Unglück hatte er Angst um sein Geschäft – Angst davor, seinen Mitarbeitern kündigen zu müssen, von denen manche seit 15 Jahren bei ihm sind. Wie lange würden die Stromausfälle dauern, wann würden seine Kunden wieder genug Benzin haben, um seine Läden zu besuchen?
Und dann waren da natürlich die Wellen. Wer sein Leben dem Surfen verschrieben hat, denkt mehr oder weniger ständig an Wellen, das ist kein Klischee. Wann also würde man wieder surfen können?
Es gab Nachbeben, die Gefahr weiterer Tsunamis. Keiner wusste genau, wie stark die Strahlung im Wasser ist. Yamamoto ertrug es damals genau zwei Wochen, dann paddelte er wieder raus. Es war die längste Abstinenz, seit er einmal in Waimea Bay auf Hawaii fast ertrunken wäre. „Ich dachte mir: Ich muss die Fahne hochhalten, ich muss surfen. Wenn ich nicht surfe, wird es niemand tun.“ Sehr seltsam sei dieses erste Mal im Meer gewesen: das Wasser so warm, so schläfrig, und irgendwie habe es gejuckt. „Ich hatte erst ein bisschen Angst“, sagt er heute, „aber nach dem Surfen fühlte ich mich gut.“
Andere hielten sich nach dem Unglück monatelang fern vom Ozean. Noriko Shibayama zum Beispiel, eine von Yamamotos Schülerinnen. Aus Mitgefühl für die Opfer verzichtete sie lieber. „Außerdem hatte ich Angst vor der Strahlung“, sagt die 39-Jährige. Seit sie wieder wellenreiten geht, nimmt sie zweieinhalb Stunden Anfahrt in Kauf, um zu den Stränden weiter im Süden zu fahren – ihre Heimatprovinz Ibaraki liegt nur 130 Kilometer südlich vom Unglücksreaktor. Das ist ihr zu nah.
Insgesamt, erzählt Yamamoto, seien rund 80 Prozent seiner erfahrenen Schüler wiedergekommen, spätestens ein halbes Jahr nach Fukushima. „Irgendwann wussten wir nicht, wie lange wir uns noch Sorgen machen sollen“, sagt eine Surferin entschuldigend und zuckt mit den Schultern. „Da sind wir dann einfach wieder ins Meer.“ Wen der Wellenvirus einmal erfasst hat, den lässt er nicht mehr los.
Dabei hatten Surferverbände nach dem Tsunami eigentlich darum gebeten, einstweilen nicht mehr rauszugehen, aus Rücksicht auf die Betroffenen. „Wollt ihr, dass ich auch mein Geschäft verliere?“, fragte Yamamoto damals zurück. Bis heute macht er 30 Prozent weniger Umsatz als vor dem Unglück, die Zahl der Surfanfänger unter seinen Schülern ging um die Hälfte zurück.
Rat suchte er schließlich bei seinem Surferfreund Koji Suzuki. Der 57-Jährige hatte durch den Tsunami sein Haus in Soma verloren, 40 Kilometer nördlich vom Unglücks-AKW. „Geh surfen, Takeshi, surfe für mich“, sagte der. „Tu, was du tun musst.“
Die Erfahrung und sein Wissen um die Kräfte des Wassers hätten seinem Kumpel und dessen Familie damals das Leben gerettet, erzählt Yamamoto. Als das Beben minutenlang sein Haus durchrüttelte, dachte Suzuki sofort an die Tsunamigefahr. Seine Familie schickte er in die Berge. Dann bekniete er seine Nachbarn, mit ihm zu fliehen – ohne Erfolg. Um zehn vor vier am Nachmittag erreichten über sieben Meter hohe Tsunamiwellen seinen Ort. Keiner seiner Nachbarn überlebte.
Aber deswegen nicht mehr ins Meer zu gehen, weil Menschen darin gestorben sind?
Yamamoto hat für sich die Gefahr akzeptiert, die das Wasser mit sich bringt, jeden Tag aufs Neue. „Als Wellenreiter muss man den Ozean respektieren“, diesen Satz wiederholt er fast wie ein Mantra. Mit dem Tsunami habe die dunkle Kraft der Natur noch einmal eine Bedeutung bekommen, die vielen vorher nicht mehr so bewusst gewesen sei.
Ein ganz anderes Thema dagegen ist die Strahlung. Zwar gibt es jeden Monat Messungen vor Chiba, und den Behörden zufolge sind bisher keine radioaktiven Substanzen gefunden worden. Trotzdem bleibt den Surfern nichts anderes übrig, als ein gewisses Restrisiko hinzunehmen. „Ich vergleiche die Strahlung mit Rückenschmerzen“, sagt Yamamoto. „Es gibt keine Chance auf vollständige Heilung, und deswegen muss man lernen, damit zu leben. Die Strahlung wird nicht einfach verschwinden.“
Alle Anfänger, die zu seinem Unterricht kommen, fragt er deshalb, ob sie sich Sorgen machen. Einer von ihnen ist Takeo Shimizu, den sein Kumpel Keisuke Niho mit einem Trick aufs Brett gelockt hat. „Er sagte, im Winter ist es viel besser, weil da weniger Leute surfen. Es sei auch gar nicht so kalt. Von wegen!“ Trotzdem können es die beiden 26-jährigen Programmierer kaum erwarten, nach Theorie, Stretching und Trockenübungen im Sand mit dem Brett unterm Arm in die Brandung zu stapfen. Die Strahlung ist eher kein Thema. Ähnlich gelassen sieht es der 34-jährige Wataru Ugajin, der sogar an die Küste Chibas gezogen ist, um öfter surfen zu gehen: „In der Luft ist die Strahlung ja auch. Also, was soll’s.“
Nur einer weiß an diesem letzten Sonntag im Februar von Wellenreitern zu berichten, die ein Jahr nach dem Tsunami immer noch Hemmungen haben. Während Tsutomu Arai seine schmalen Hüften zum Aufwärmen in einem imaginären Hula-Hoop-Reifen schwingt, erzählt er von seinen drei Surfkumpels. In den vergangenen zwölf Monaten habe er sie oft angemailt, aber kaum einmal Antwort bekommen. Die drei seien Angestellte von Tepco, dem Betreiber des havarierten Kernkraftwerks. „Es ist ihnen peinlich“, erzählt er, „dass es ihre Firma war, die so vielen Menschen solche Unannehmlichkeiten bereitet hat.“ In einer solchen Lage surfen zu gehen, das brächten sie nicht fertig. „Sie üben sich in Geduld“, sagt Arai.
Dann schnappt er sich sein Brett und läuft in die Brandung.