Verspäteter Wiederaufbau der Herzen
Warum weiterleben, wenn das Schicksal mir mein Kind genommen hat? Diese Frage stellen sich in Ishinomaki viele Eltern. In keiner anderen Schule hat der Tsunami vor fünf Jahren mehr Kinder das Leben gekostet. In Japan haben viele Angehörige von Tsunami-Opfern erst spät bemerkt, dass sie Hilfe brauchen.
Toshiro Sato geht in die Hocke, senkt den Kopf und faltet die Hände zum Gebet. Nach einem kurzen Moment richtet sich der sportlich wirkende 52-Jährige auf und geht schnellen Schrittes voran. Der eisige Wind wirbelt Schneeflocken um das zerstörte Gebäude der Okawa-Grundschule. Im früheren Schulhof öffnen Sato und Hideaki Tadano ihre mitgebrachten Mappen; grossformatige Fotos zeigen einen modernen Bau in Backsteinoptik. „So sah die Schule vorher aus“, erklärt Sato.
Der rettende Hügel so nah
„Es ist kalt, lasst uns hineingehen“, sagt Sato und steigt über verdrehte, abgerissene Stahlstreben in ein früheres Klassenzimmer. Wo einmal die Aussenwand zum Schulhof war, klafft jetzt ein riesiges Loch. Der Raum ist leer, nur die fest installierten Schreibtafeln sind noch an Ort und Stelle. Teile der Zimmerdecke hängen in Fetzen herunter. Auf dem Weg ins Obergeschoss hebt Sato ein verdrecktes Einrad hoch. Damit vergnügten sich die Schüler früher in den Pausen. Im oberen Stock wölbt sich der Stahlbetonboden eines Klassenzimmers wie eine Beule nach oben. Die Zimmerdecke ist fast bis unters Dach bräunlich gefärbt. „Bis dorthin reichte das Wasser“, erklärt Sato. In Regalen stehen noch Bücher, schlammbedeckt. Im Gang zeigt er auf einen Haken an der Wand, „Mizuho Sato“ steht darüber. „Das ist der von meiner Tochter.“ Die Zwölfjährige war eine der 108 Schüler der Okawa-Grundschule – wie auch Tadanos neunjährige Tochter Mina. Die beiden Mädchen gehörten zu jenen 74 Kindern, die in den eiskalten Fluten des Tsunamis umkamen. Dieser frass sich am 11. März 2011 nach einem heftigen Seebeben der Stärke 9 über den Kitakami-Fluss vier Kilometer weit bis zur Schule vor und noch weiter landeinwärts.
18 457 Menschen verloren damals entlang der ostjapanischen Pazifikküste ihr Leben. Unter ihnen waren mehr als tausend Kinder. Sato und Tadano besuchen die Schule regelmässig; sie führen auch Gruppen über das Gelände. Sie wollen bei Besuchern das Bewusstsein für das Tsunami-Risiko nach Beben schärfen und ähnliche Tragödien verhindern. Der 44-jährige Tadano wünscht sich, dass möglichst viele Menschen die Ruine in Ishinomaki besuchten, im Fernsehen komme das nicht richtig rüber: „Nur vor Ort können sie am eigenen Körper erspüren, was hier passiert ist.“
Etwa fünfzig Schritte vom Schulgelände entfernt an einem Hang zeigen die Väter auf eine hölzerne Markierung am Waldboden: Bis hierhin kam der Tsunami. Warum flohen die Lehrer mit den Schülern nicht auf die Anhöhe? Man weiss, dass einige Kinder, die losrennen wollten, zurückgerufen wurden. Die Schulbehörde bleibt Antworten schuldig. Der einzige Überlebende der elf Lehrer ist seither krankgeschrieben, verweigert ein Treffen. Seit kurzem läuft ein Gerichtsverfahren gegen die Stadt Ishinomaki. Es gehe ihnen nicht darum, Leute in die Enge zu treiben, sagt Tadano, sondern darum, Probleme im Hinblick auf die Zukunft zu lösen.
Erst 2013 sei ihnen psychologische Betreuung angeboten worden, erinnern sich die Väter. Zu spät für viele Hinterbliebene. Tadano, der neben seiner Tochter auch seine Frau und seinen Vater verlor, sagt, er könne inzwischen darüber sprechen; andere schafften dies noch heute nicht. Viele Ehen seien daran zerbrochen. Ihn habe eine Interviewanfrage aus der Starre gerissen. Erst mit einer Fernsehjournalistin habe er bestimmte Orte wieder aufsuchen und Worte finden können. Gespräche wie auch dieses seien seine Therapie. Fünf Jahre nach dem Tsunami gibt es Forderungen, die Ruine des Schulgebäudes abzureissen. Der Anblick füge ihnen Schmerzen zu, argumentieren einige Angehörige. Sie wollen keine Touristenbusse dort sehen. Die beiden Väter gehören zu einer grösseren Gruppe, die für den Erhalt plädiert. „Für mich ist dies ein Ort, an dem ich meine Tochter treffen kann“, sagt Sato. „Wir müssen bewusst mit den schmerzlichen Erinnerungen leben.“ Nur weil das Gebäude nicht mehr da sei, verschwinde nicht automatisch der Schmerz.
An keinem anderen Ort kamen 2011 durch den Tsunami so viele Kinder ums Leben wie an der Okawa-Grundschule. Sie wurde zu einem Symbol für die schlechte Vorbereitung der Lehrkräfte auf den Notfall und für lokale Behörden, die das Geschehene am liebsten totschweigen würden. Ein Einzelfall ist sie nicht. Auch im Falle des Hiyori-Kindergartens in der gleichen Stadt mauerten die Beamten so lange, bis die Angehörigen vor Gericht zogen. Nach den starken Erdstössen liess der Hortleiter die Kinder nach Hause bringen, obwohl der Bus dafür von einer sicheren Anhöhe hinunter in die Ebene musste, nur 200 Meter vom Meer entfernt. Unterwegs erfasste ihn der Tsunami. Der Fahrer fand sich später ohne Erinnerung ausserhalb des Fahrzeugs wieder und alarmierte den Hortleiter. Doch dieser tat nichts. Bis in die Nacht hätten Anwohner Kinder „Rettet uns!“ rufen hören. Sie konnten den Bus aber im Dunkeln und unter dem Schutt nicht ausmachen. Vier Tage später fand man die Leichen von einer Betreuerin und fünf Kindern im ausgebrannten Fahrzeug, unter ihnen die sechsjährige Airi Sato.
Neue Städte, alte Wunden
Sie sei damals so voller Schmerz gewesen, dass es ihr die Luft abgeschnürt habe, sagt Airis Mutter, Mika Sato, eine mädchenhafte, freundliche Frau mit langem schwarzem Haar. „Anfangs dachte ich ständig, meine verstorbene Tochter sei alleine auf ihre letzte Reise gegangen, sie war doch erst sechs Jahre alt. Wenn ich nicht bei ihr bin, wird sie es schaffen? Es gab eine Zeit, da wollte ich nur so schnell wie möglich an ihre Seite“, sagt Sato. Dass die heute 41-Jährige ihrer Todessehnsucht nicht nachgab, lag an ihrer zweiten Tochter Juri, damals drei Jahre alt. Es fällt auf, wie oft sie vom „Weiterlebenmüssen“ spricht. Noch heute scheint das verstorbene Kind viel Raum in ihrem Herzen einzunehmen. Sie wolle nicht, dass ihre Tochter umsonst gestorben sei, sagt Sato, wenn sie erklärt, warum sie vor Gericht zog und warum sie mit den Medien spricht. Sonst gebe es ja nicht viel, was sie für Airi tun könne, sagt sie.
Chiho Shimura unterstützt Mika Sato dabei, ihren Verlust zu überwinden, auch zum Wohl der verbliebenen Juri. Die 49-Jährige gründete nach der Katastrophe die Hilfsorganisation Kokoro Smile. Diese kümmert sich in erster Linie um traumatisierte Kinder, aber auch um Erwachsene, die den Verlust ihrer Kinder betrauern. Für viele Hinterbliebene sei die Zeit stehengeblieben, sagt Shimura, es gebe keinen Fortschritt. „Nach aussen wirken sie in Ordnung, aber ihre Herzen sind verschlossen.“ Sie sieht, dass überlebende Kinder wie Juri ebenso leiden – unter dem Verlust eines Geschwisters, aber auch unter mangelnder Zuwendung durch ihre trauernden Eltern. Alle Liebe scheine das verstorbene Kind zu bekommen. Dieses würde im Nachhinein häufig verklärt, während das lebende Kind auch einmal Fehler mache, die Eltern verärgere, sagt Shimura. Juris Mutter wähle noch heute die Lieblingsfarbe der älteren Schwester und koche deren Lieblingsessen. In einem Brief an die verstorbene Schwester schrieb Juri als Sechsjährige, diese solle doch die Eltern zu Lachen bringen. Das Mädchen selbst glaube nicht, dass es das könne, erzählt Shimura. „Eigentlich hätte ich Juri besonders liebevoll behandeln sollen“, räumt die Mutter Sato heute ein, „aber es war einfach nicht das Umfeld dafür.“ Gemeinsam besuchen die Mutter und die inzwischen achtjährige Tochter regelmässig die Kunsttherapie im „Kokoro Smile House“ von Shimura, einem liebevoll mit rosa Kirschblüten beklebten, ausgebauten Baucontainer auf einer Anhöhe am Rand von Ishinomaki.
Seit einem knappen Jahr trifft sich Mika Sato dort ausserdem zweimal im Monat mit anderen Frauen in der gleichen Lage zum Tee. Das helfe ihr sehr. Im Container steigt vom Boden des Metallgehäuses Kälte auf, der trotz einem Heizofen kaum beizukommen ist. Dafür ist die Atmosphäre im Raum umso wärmer. Die Frauen begrüssen sich herzlich, als wären sie alte Schulfreundinnen. Eine Alltagssituation, die für viele der betroffenen Mütter einem Spiessrutenlauf gleicht und deshalb immer wieder zu reden gibt, ist das Einkaufen im Supermarkt. Manche fahren extra zu weit entfernten Läden, wo sie niemand kennt. Sie wollen auf keinen Fall die Mütter früherer Spielkameraden ihrer Kinder treffen. „Die sagen dann ‹Oh, Sie sehen ja gut aus, was für ein Glück›“, erzählt Mika Sato. „Das verletzt mich.“ Es mache sie traurig und neidisch, deren Kinder aufwachsen zu sehen. Wenn das Gespräch in der Runde versiegt, schaltet sich Shimura behutsam ein, gibt Stichworte und Ratschläge. Während sie versucht, für alle ein offenes Ohr zu haben, muss sie die Finanzen im Auge behalten. 100 000 Yen, umgerechnet 880 Franken, fallen pro Monat an Kosten an. Shimuraselbst arbeitet ohne Gehalt und lebt vom Ersparten. „Momentan haben wir nur noch Geld bis März“, schreibt sie spürbar gestresst ein paar Tage später, „dann müssen wir vielleicht den Betrieb einstellen“.
Alle Eltern, die sie betreue, seien einmal zur Behandlung im örtlichen Krankenhaus gewesen, sagt Shimura. Dort hätten sie oft nur Medikamente bekommen, ohne dass der Arzt ihnen ins Gesicht geschaut habe. Beim Versuch, Familien gemeinsam zu therapieren, hätten die Ärzte die Schuld an den Problemen häufig den Müttern zugeschoben. Einige seien dadurch ein zweites Mal traumatisiert worden. Zwar gebe es eine psychologische Beratungsstelle in Ishinomaki, aber diese beschränke die Gesprächsdauer am Telefon auf strikte zehn Minuten und schliesse um 16 Uhr. „Das ist viel zu kurz“, kritisiert Shimura. „Gerade abends denken doch viele Leute an Selbstmord!“ Oft sei sie daher noch bis in die Nacht in Kontakt mit Hinterbliebenen – über Telefon oder soziale Netzwerke.
Teenager mit Flashbacks
Dabei beobachtet Shimura fünf Jahre nach dem Tsunami eine Trendwende: Kinder, die bis jetzt – nicht zuletzt für die Eltern – die Zähne zusammengebissen hätten, würden nun auffällig, auch wenn sie auf den ersten Blick gesund wirkten. Die Kinder hätten Angst alleine zu sein, würden depressiv oder schizophren. Einige gingen länger nicht zur Schule, hätten Flashbacks oder würden im Teenager-Alter wieder zu Bettnässern. Auch das Geschlechterverhältnis ändere sich nun: Anfangs seien viele Mädchen und Frauen zu ihr gekommen, nun mehr Knaben und Männer. Als Mann Gefühle zu zeigen, ist in Japan verpönt, erst recht in der von Fischern und Bauern dominierten Männer-Kultur auf dem Land.
Es gibt Ausnahmen wie die beiden trauernden Väter der Grundschule. Diese fanden Trost und neuen Lebensmut in ihrem Einsatz für sicherere Schulen. Andere, wie der Vater von Airi Sato, haben Mühe anzuerkennen, dass ihr Kind tot ist. Ihr Mann weigere sich, die Hände vor dem Hausaltar für die Tochter zu falten, sagt Mika Sato. „Aber das ist bei Vätern wohl anders. Ich als Mutter denke, ich muss das für meine Tochter tun.“ Sie zünde zweimal pro Tag vor der Foto ihrer Tochter ein Räucherstäbchen an und stelle Tee und Essen davor. Am Wachstum ihrer zweiten Tochter Juri bemerke sie, dass die Zeit doch vergehe, sagt Sato. Für Juri bereitet sie ein besonderes Geschenk vor: ein Album mit Bildern von zwei Puppen, die für die Geschwister stehen. Denn Juri hat sich vom Weihnachtsmann eine Weltreise gewünscht, vor allem für Airi. Nun nehmen immer wieder Reisende die Puppen mit ins Ausland und machen Fotos von diesen. Die Fotos der Puppen bekommt Juri nun nach und nach geschenkt.
„Wenn man sich umschaut, macht der Wiederaufbau der Städte Fortschritte“, sagt Chiho Shimura. „Es liegt kein Schutt mehr herum. Und es gibt Tsunami-Schutzmauern. Aber der Wiederaufbau der Herzen ist verspätet.“