Journalistin, Aufnahmeleiterin & Filmemacherin in Japan

„Ich habe die Angst vor dem Sterben verloren“

Bürgermeister Futoshi Toba musste sich in Sekundenbruchteilen entscheiden: Seine Frau vor der Todesgefahr warnen oder der Pflicht nachkommen?

Drei Minuten mit dem Auto. Mehr hätte es nicht gebraucht, um nach Hause zu fahren und seine Frau Kumi zu warnen. Das Telefonnetz war überlastet, er musste also selber hinfahren. In knapp zehn Minuten hätte Futoshi Toba zurück im Rathaus sein können. Doch was, wenn in seiner Abwesenheit noch etwas passierte? Die Erde hatte eben massiv gebebt. Das Wetteramt hatte eine Tsunamiwarnung ausgegeben. Bürgermeister Toba rang mit sich selbst. Erst einen Monat zuvor hatte er das Amt in Rikuzentakata angetreten, einem Städtchen mit 24 000 Einwohnern an der japanischen Ostküste. Er fühlte sich verantwortlich. Wenn er jetzt ginge, hätte niemand die Kompetenz, Entscheidungen zu treff en. Ausserdem müsste er sich später wohl einiges anhören. Vermutlich ging es anderen Amtsträgern gerade ähnlich wie ihm, dachte er, und die blieben alle hier. Er versuchte, ruhig zu bleiben. Am Ende stieg er nicht ins Auto.

Über drei Wochen später, am 5. April, erhielt Toba einen Anruf: Man habe eine weibliche Leiche gefunden, die seiner Frau Kumi gleiche. In all der Zeit hatte Toba nie wie die anderen Überlebenden die Reihen der aufgebahrten Toten in den provisorischen Leichenhallen abgesucht. Stattdessen hatte er sich in die Arbeit gestürzt, neben seinem Schreibtisch in der improvisierten Kommandozentrale geschlafen und versucht, die Versorgung der Überlebenden in der verwüsteten Stadt sicherzustellen. Jeder zehnte Bürger war tot oder verschwunden. „Ich war vielleicht ein guter Bürgermeister, aber was war ich für ein Ehemann?“, fragte er sich.

Wasserwand von 16 Metern Höhe

Am frühen Nachmittag des 11. März 2011 hatte er mit Kumi noch telefoniert. Sie hatten überlegt, abends mit ihren Söhnen in ein Grillrestaurant zu gehen. Um 14.46 Uhr erschütterten heftige Erdstösse der Stärke 9,0 auf der Richterskala weite Teile Japans. Toba hörte die Tsunamiwarnung im Autoradio auf dem Parkplatz vor dem Rathaus. Drei Meter hoch sollte die Flutwelle werden. Das ist viel, aber die Tsunami-Schutzmauer mass 5,5 Meter. „Wir werden vielleicht nasse Füsse kriegen, maximal bis zum Knie wird das Wasser reichen“, habe damals jeder gedacht. Tatsächlich raste dann jedoch eine Wasserwand auf Rikuzentakata zu, die sich an der Küste bis zu 16 Meter auftürmte.

Ein Beamter, der die See mit einem Fernglas beobachtete, schrie es als Erster vom Dach: „Der Tsunami ist über die Schutzmauer! “ Unaufhaltsam ergossen sich die schwarzen Fluten in die Ebene um die Flussmündung, auf das Herz des Städtchens zu. Sie rissen den Schutzwald aus 70 000 Kiefern bis auf eine einzige weg, schwemmten Häuser wie Spielzeug fort und zerfetzten eine grosse Reiswein-Fabrik. Acht Kilometer weit walzte sich das Trümmermeer ins Landesinnere.

Fast 18 000 Todesopfer forderte die Katastrophe an der japanischen Ostküste, jedes zehnte in Rikuzentakata. Wenige Minuten oder nur Sekunden entschieden an jenem Tag über Leben und Tod. Wie bei Futoshi Toba und seiner Frau Kumi. Während er seine Söhne Taiga und Kanato sicher in der Grundschule auf einer Anhöhe wusste, war Kumi in ihrem dreistöckigen Haus. Sie würde wohl zuerst Älteren und Kindern in der Nachbarschaft helfen, wie sie es bei Katastrophenübungen trainiert hatte, dachte Toba. Erst sammeln, dann durchzählen, dann gemeinsam fliehen. „Ich hatte inständig gehofft, dass sie es geschafft hat“, sagt Toba.

Leitfaden und Bauchgefühle

Bürgermeister Toba selber überlebte knapp. In letzter Sekunde schaffte er es aufs Dach des vierstöckigen Rathauses. Es war ein altes Gebäude, aber aus Stahlbeton. „Als ich mich nach unserem Haus umschaute, sah ich, wie all die Häuser dort einfach zerquetscht worden waren“, sagt Toba. „Mein Bauchgefühl sagte mir damals, ich sollte meine Familie beschützen. Dass ich es nicht getan hatte, habe ich lange bereut“, sagt Toba. „Aber irgendwann kam ich zu dem Schluss, dass es letztlich wohl unvermeidbar war.“

Eigentlich hätte er damals direkt nach dem Beben, wie vom Katastrophenleitfaden vorgesehen, eine Krisensitzung abhalten sollen. Toba hatte den gutgemeinten Hinweis eines Mitarbeiters angesichts des herannahenden Tsunamis jedoch intuitiv ignoriert, und damit wohl einige Leben gerettet. „Die Lehre, die wir daraus gezogen haben, ist, dass es zwar wichtig ist, einen Leitfaden zu haben, aber dennoch sollte man immer auch schauen, was man selbst in dem Moment fühlt.“ Es sei schon wichtig, die Meinung anderer in Betracht zu ziehen – aber nicht zu sehr. „Sonst tötet man das eigene Gefühl.“

Der junge Bürgermeister machte sich schnell einen Ruf als jemand, der sich nicht scheut, Dinge beim Namen zu nennen. Während manche Tobas Entscheidungsfreude und Ideen für den Wiederaufbau lobten, kritisierten ihn andere für das, was sie als Alleingänge empfanden. „Wenn ich nicht entscheide, kommt diese Stadt nie voran“, sagt Toba. Kürzlich wurde er wiedergewählt.

Entschlossener Politiker – zögernder Familienvater

Mit diesem entschlossenen Politiker hat der Familienvater Futoshi Toba wenig gemein. Wochenlang haderte er sogar damit, wann und wie er seinen Söhnen sagen sollte, dass ihre Mutter tot war. Lange zögerte er den Moment hinaus. Erst nach der Kremation, am Vorabend der Totenfeier, die am 21. Mai 2011 stattfand, nahm Toba seinen Ältesten zur Seite. Der damals zwölfjährige Taiga reagierte gefasst. „Aber ich wusste nicht, wie ich es seinem jüngeren Bruder Kanato sagen sollte“, erinnert sich Toba. „Also sagte ich gar nichts, auch am nächsten Morgen nicht.“ Als sie ins Auto stiegen, fragte der Zehnjährige immer wieder: „Wohin fahren wir?“ Toba schwieg. Als sie kurz darauf ankamen, sah Kanato die Urne und das Foto seiner Mutter. Er weinte drei Tage lang.

Im Mai 2012 zogen die drei in einen Neubau. „Er liegt ganz weit oben am Berg“, sagt Toba, „manchmal kommen dort Bären aus dem Wald.“ Jeden Morgen stehe er um fünf Uhr auf, um für den Ältesten das „Bento“ zuzubereiten, das Mittagessen zum Verzehr in der Schule. „Sich immer ein Menü für ihn auszudenken, ist schwierig“, sagt Toba und lacht. Inzwischen seien die Jungs wieder voller Tatendrang. „Seit dem Tsunami habe ich die Angst vor dem Sterben verloren „, sagt Toba. Sorgen macht ihm aber, dass seine Söhne zu Vollwaisen werden, wenn auch er sterben sollte. Deswegen passe er nun besser auf seine Gesundheit auf und habe das Rauchen aufgegeben. „Wir haben nur ein Leben“, sagt Toba, „man weiss nie was passiert.“